Tausende italienische Bozner, Leiferer und Meraner stammen aus den einstigen italienischen »Ostgebieten« im ehemaligen Jugoslawien.
Im venezianisch geprägten Istrien in Slowenien und Kroatien leben noch immer Italiener:innen, ihre Sprache ist amtlich, sie können sich autonom verwalten und viele von ihnen haben einen slowenischen oder kroatischen sowie einen italienischen Pass, also einen »Doppelpass«.
Einst zählten diese Istrier und Dalmatiner mehr als 350.000 Köpfe. Heute ist es eine überschaubare Zahl, gut 3.000 in Slowenien, 30.000 in Kroatien sowie geschätzte 40.000 Zweisprachige. Sie wurden während und nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben, viele auch ermordet, in den Foibe, in den Karsthöhlen zwischen Triest und Fiume. Eine Wunde, findet die Rai, die noch immer blutet. Und der wirtschaftliche Schaden war nicht unbeträchtlich.
Die Erinnerung an Istrien wird auch in Bozen gepflegt. Jährlich am 10. Februar gedenken die Stadtregierung und die Nachkommen der vertriebenen Istrier und Dalmatiner auf der Talfermauer an die Foibe-Massaker. Ein nüchternes Denkmal erinnert an die von Tito-Partisanen zwischen dem Herbst 1943 und im Frühjahr 1945 ermordeten Italienerinnen und Italiener. Die Orte der Massaker liegen im Hinterland von Triest/Trst, im Inneren der istrischen Halbinsel, in und um Rijeka/Fiume.
Den Foibe-Verbrechen fielen viele Unschuldige zum Opfer, es waren Racheakte für die unter faschistischer Herrschaft erlebte, brutale Repression. Ausgerechnet Neofaschisten diverser Spielart missbrauchen diesen Gedenktag. Der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauss zitiert seinen slowenischen Schriftstellerfreund Drago Jančar, der in den 1980er Jahren das kommunistische Tabu brach und die Selbstjustiz der Partisanen geißelte. Jančar klassifizierte auch die Tötung »von argen Kollaborateuren und Kriegsverbrechern ohne Prozess« als Schandtat, die einen düsteren Flecken auf den gerechten Kampf der Partisanen wirft. Ja, der Opfer soll gedacht werden, findet Gauss, aber sicher nicht einträchtig mit den Faschisten von heute.
Ein Blick zurück
Die Vorfahren der Istrier waren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bürger und Bürgerinnen der Habsburgermonarchie. Istrien und Dalmatien, Heimat auch von slowenischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen, wurden wie Südtirol mit dem Vertrag von Saint-Germain 1919 Italien zugesprochen.
Das seit 1922 herrschende faschistische Regime unterdrückte alle nicht-italienischen Bevölkerungsgruppen. Im Zweiten Weltkrieg besetzten 1941 Truppen des faschistischen Italiens Slowenien und den verbündeten kroatischen faschistischen Ustascha-Staat.
Zehntausende Slowenen und Kroaten wurden deportiert, viele ermordet. In Gefangenenlagern. In acht Lagern wurden mehr als 20.000 Insassen zusammengepfercht, mussten Internierte ihre ethnische und kulturelle Identität ablegen und durften ihre Sprachen und Namen nicht mehr verwenden.
In einem Gefangenenlager in Blumau wurden zwischen 1941 und 1943 auf dem Gelände einer ehemaligen Bierbrauerei 3.000 slowenische, kroatische, serbische, bosnische und montenegrinische Widerstandskämpfer schikaniert und gefoltert. Diesen Opfern widmete Günther Rauch mit Italiens vergessenes Konzentrationslager Campo d’Isarco 1941-1943 ein »Denkmal«.
Als Rache für dieser Unterdrückung verübten die Tito-Kommunisten ab 1943 die Foibe-Massaker. Die kommunistische Volksbefreiungsarmee ging gegen die alteingesessene italienischsprachige Bevölkerung Istriens vor. Diese Italiener sind Nachfahren ehemaliger venezianische Siedler.
Schätzungsweise 5.000 Kinder, Frauen und Männer wurden von den Tito-Kommunisten ermordet, andere Quelle sprechen sogar von bis zu 11.000 Opfern. Nach ihrer Tötung wurden die Leichen in den Karsthöhlen »entsorgt«. Noch während des Krieges gründeten italienische Antifaschisten ihre Unione Italiana.
Im Jahr 1945 wurden die seit 1919 zu Italien gehörenden Gebiete Istrien und Dalmatien dem neuen Jugoslawien »angegliedert«. Die Volksrepublik ging gegen die italienischen Istrier und Dalmatiner sowie gegen die sogenannten Volksdeutschen in Slowenien und im serbischen Banat vor. Mehr als 300.000 italienische Istrier flüchteten aus ihrer Heimat. 22.000 dieser »Jugoslawien«-Italiener verschlug es laut dem Historiker Kurt Gritsch 1946 auch nach Südtirol.
Auch eine »Option«
Im Jahr 1947 durften die noch in Jugoslawien verbliebenen Italienerinnen und Italiener wählen, ob sie bleiben oder nach Italien »aussiedeln« wollten. Eine Mehrheit entschied sich zur Auswanderung. Es war ihre »Option«. Willkommen waren diese Flüchtlinge in Italien keineswegs. Die anglo-amerikanischen Befreier Italiens vom Faschismus akzeptierten die ethnische Säuberung Istriens und Dalmatiens, versuchten aber für die multikulturelle Hafenstadt Triest eine kreative Lösung zu finden: Den Freistaat Triest, der bis 1954 bestand. Letztendlich verblieben Triest und sein nördliches Umland auf dem italienischen Staatsgebiet, der südliche Teil des Triestiner Umlandes wurde jugoslawisch.
Der Schutz
Das wurde im Londoner Memorandum 1954 zwischen den USA, Großbritannien, Italien und Jugoslawien festgelegt. Der UN-Sicherheitsrat nahm dieses Memorandum an, das die slowenische Minderheit in Italien und die Italiener in Jugoslawien unter Schutz stellt. Ein klarer Auftrag an die beiden Vertragsstaaten.
Erst 25 Jahre später, im November 1975, einigten sich Italien und Jugoslawien mit dem Vertrag von Osimo auf die im Memorandum bereits festgelegte Grenzziehung. In der Zeit zwischen Londoner Memorandum und Vertrag von Osimo forderte die slowenische Minderheit in der autonomen Region Friaul-Julisch Venetien ein, wenn auch dürftiges, Minderheitenschutzsystem ein. Ähnliches gelang auch den in Jugoslawien verbliebenen Italienern.
Slowenien
Nach einem zehntägigen Krieg löste sich Slowenien 1991 von Jugoslawien. Der junge Staat, seit 2004 Mitglied der EU, hat für die 5.000 Angehörigen der italienischen Minderheit in sieben Gemeinden zahlreiche Rechte festgeschrieben, darunter Italienisch als Amts- und Unterrichtssprache sowie kommunale Selbstverwaltung.
Die Unione Italiana genießt als Dachorganisation in diesen Gemeinden ein garantiertes Mitspracherecht. Slowenien baute auch das öffentliche italienischsprachige Radio- und TV-Angebot großzügig aus. Die Italiener in Slowenien stehen mit ihren Landsleuten im benachbarten Kroatien über die Unione Italiana in enger Verbindung.
In der aktuellen Diskussion um die Regionalisierung in Slowenien drängt die italienische Minderheit auf die Bildung einer autonomen istrischen Provinz, die aus diesen sieben Gemeinden bestehen soll. Ihr Vorbild liegt in Kroatien.
Kroatien
In der Republik Kroatien leben mehr als 30.000 Italienischsprachige, meist in Istrien aber auch in Rijeka/Fiume, Dalmatien und im östlichen Teil des Landes. Istrien ist eine seit 1994 zweisprachig erklärte Region, in der aber weitere Sprachgruppen leben: neben Kroatisch und Italienisch gibt es dort auch »Venezianisch« sowie Istriotisch (Istro-Romanisch) sprechende Kroaten.
Laut einer — möglicherweise überholten — Studie (1996) der Universität Rijeka fühlen sich sieben Prozent der über 200.000 Istrier als ethnische Italiener, die Hälfte als kroatisch und 20 Prozent als istrisch oder kroatisch-istrisch. Die Hälfte der Bevölkerung versteht und spricht Italienisch.
Die Istrier wählen ihre Regionalversammlung und ihre Regionalregierung. Das Autonomiestatut von 1994 sieht das Kroatische und das Italienische regional als gleichwertige Amtssprachen vor. Rechte kroatische Parteien wettern jedoch immer wieder gegen eine angebliche »Reitalianisierung« Istriens.
Die Region verfügt über eigene Steuereinnahmen, der Vizepräsident muss stets der italienischen Sprachgruppe angehören. Ein Ausschuss der Regionalversammlung befasst sich mit dem Schutz der italienischen Minderheit und die Region bekennt sich zur Förderung der ethnischen und kulturellen Besonderheiten Istriens.
Istriens Autonomie
Die autonome Region Istrien ist in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Umweltschutz, Mobilität und wirtschaftliche Entwicklung zuständig. Sie betreibt über ihre regionale Außenpolitik eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit dem nördlichen, slowenischen Istrien und mit der autonomen italienischen Region Friaul-Julisch Venetien. Fernziel ist die gemeinsame Gründung der »Euregio Istrien«.
Istrien hofft darüber hinaus auf das Zustandekommen des Projektes Europaregion Senza Confini, das in Italien von Venetien und Friaul-Julisch Venetien sowie vom österreichischen Bundesland Kärnten vorangetrieben wird.
Stärkste politische Kraft in Istriens Regionalversammlung ist seit ihrer Gründung die interethnische Liste Dieta democratica istriana. Italienische Istrier zählen zu den Gründungsmitgliedern dieser linksliberalen politischen Kraft. Mit ihrer Erklärung von Rovinj fordert die Dieta seit 1994 die Demokratisierung und die Regionalisierung Kroatiens und damit eine vollständige politische, administrative und sprachliche Territorialautonomie für Istrien.
Die Reaktion Italiens
In Italien interessierte und kümmerte sich lange Zeit nur der neofaschistische MSI um die »italienischen« Belange in Istrien und Dalmatien und um die ehemals nach Italien geflüchteten Istrier. Alle anderen italienischen Parteien überließen sie und ihre Nachfahren, die mittlerweile in den Regionen Friaul-Julisch Venetien und Venetien leben, den Rechten.
Im Jahr 1992 wurde das italienische Staatsbürgerschaftsgesetz reformiert: Erleichterung der Einbürgerung von Migrant:innen und die Staatsbürgerschaft für Auslandsitaliener. Dafür gab es auch Applaus unter den Angehörigen der italienischen Minderheiten in Slowenien und Kroatien.
Im Jahr 2000 folgte ein Gesetz, das die italienische Staatsbürgerschaft explizit auch für jene Bewohner:innen vorsah, die in den ehemaligen Habsburger Gebieten lebten, wie Istrien und Dalmatien, mittlerweile Teile Sloweniens und Kroatiens. Diese Doppelstaatsbürgerschaft ist für die Unione Italiana ein zusätzlicher Schutz.
Viele Bewohner:innen von Istrien und Dalmatien entdeckten nun plötzlich ihre italienischen Wurzeln, ein Run auf den italienischen Pass war die Folge.
Dieser italienische Vorstoß sorgte aber auch für Kritik: Die negativen Reaktionen in Ljubljana und in Zagreb ähnelten frappierend dem Widerstand der italienischen Parteien und auch der Grünen gegen den österreichischen Pass für interessierte Südtirolerinnen und Südtiroler. Die kroatische Regierung ließ die Republik Italien wissen, Istrien, Primorska und Dalmatien seien untrennbare Teile der Republik Kroatien. Und auch aus Slowenien kamen negative Stimmen.
Die zweite, 2001 bis 2005 amtierende Regierung Berlusconi scherte sich wenig um die slowenisch-kroatische Kritik und erklärte 2004 auf Druck der MSI-Nachfolgepartei Alleanza Nazionale den 10. Februar zum Tag des Gedenkens an die Opfer der Foibe.
Am Tag des Gedenkens vom 10. Februar 2019 sorgte Antonio Tajani, ehemals Präsident des Europaparlaments und seit Herbst 2022 Außenminister in der rechtsrechten Regierung von Giorgia Meloni (FdI), in Basovizza/Basoviza/Bazovica nordöstlich von Triest/Trst für Aufregung. Er provozierte Slowenien und Kroatien mit dem Aufruf »viva l’Istria e la Dalmazia italiana«, beide interpretierten den Sager als italienischen Anspruch auf slowenisches und kroatisches Territorium.
Aber nicht weniger nationalistisch sind auch die slowenischen und kroatischen Reaktionen. Den Dörfern und Städten an der istrischen Küste und Ragusa/Dubrovnik in Dalmatien kann niemand die venezianische Herkunft absprechen. Steinerne Zeitzeugen der untergegangenen venezianischen Republik.
Heucheln um den Doppelpass
Eine interessante Parallele: Während nicht nur die italienische Rechte ab 2020 gegen einen Doppelpass für Südtiroler:innen Sturm lief, gewährte also der italienische Staat seinen Volksgruppen in Slowenien und in Kroatien die Staatsbürgerschaft.
Der Einsatz der italienischen Regierung zugunsten der »verlorenen Mitbürger:innen« in den ehemaligen italienischen Ostgebieten wurde auch in Südtirol zur Kenntnis genommen. Die SVP und das rechte Lager setzten das Thema 2009 auf die politische Agenda: Die italienischen Staatsbürger deutscher und ladinischer Muttersprache sowie alteingesessene Italiener sollten ebenfalls das Anrecht auf eine Doppelstaatsbürgerschaft von Österreich erhalten, von dem Südtirol 1919 getrennt worden war.
Im Jahr 2010 suchte die Landesregierung das Gespräch mit Österreich. Und die österreichische Regierung ließ daraufhin eine Expertise erstellen: Der Weg liefe über die Änderung des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes. Die türkis-blaue Regierung unter Sebastian Kurz (2017/2021) nahm dieses Vorhaben in ihr Programm auf. Um das tirolpatriotische Anliegen zu kaschieren, sollten auch ehemalige Bewohner:innen des Habsburger Reiches in den Genuss der österreichischen Staatsbürgerschaft kommen — sowie die Nachfahren jüdischer Österreicher:innen.
Mit dem Scheitern von Bundeskanzler Kurz wurde die Angelegenheit jedoch auf die lange Bank geschoben. Italien hatte mehrfach interveniert und Österreich aufgefordert, von diesem Anliegen Abstand zu nehmen. Auch mit dem Hinweis, die Mehrheit der Südtiroler:innen wolle den österreichischen Pass gar nicht.
Gespannt soll Ministerpräsidentin Giorgia Meloni den vierwöchigen Versuch des FPÖ-Chefs Herbert Kickl verfolgt haben, eine rechtskonservative Regierung zu bilden. Gespannt, ob die Freiheitlichen den Doppelpass für Südtiroler in das Regierungsprogramm festschreiben würden. Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) sprach sich auf der Landtagssitzung (11. Februar, eine Stunde und 20 Minuten) vorbeugend strikt und konsequent dagegen aus. Vorauseilender Gehorsam oder vorsichtige Strategie?
Was wäre passiert, hätte Kickl als Bundeskanzler den Pass für Südtiroler ins Regierungsprogramm aufgenommen? Meloni hätte wohl die Autonomieverhandlungen mit Landeshauptmann Kompatscher abgebrochen.
In Istrien ticken die Uhren anders als in Südtirol.
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