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Tourismus in Maßen statt in Massen.
Neuerscheinung »Heimat oder Destination Südtirol?«

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Kritische Sicht auf die Tourismusindustrie in Südtirol

Im Jahr 2023 hat die Südtiroler Tourismuswirtschaft die 8-Millionen-Marke bei den Ankünften geknackt, 2024 werden wir wahrscheinlich auf den 3. Rang im EU-Regionenranking nach Tourismusintensität vorrücken. Was bedeuten 36 Millionen Nächtigungen? Es sind nicht weniger als 62 Prozent der 58 Millionen Nächtigungen, die die ganze Schweiz verzeichnet hat, ein 9-Millionen-Einwohner-Land und eine touristische Topdestination.

Diese intensive touristische Nutzung unseres Landes wird in der Verkehrsüberlastung deutlich: Weil 80-86 Prozent der Südtirolbesucher mit eigenem Kfz anreisen, aber durchschnittlich immer weniger lang bleiben, haben wir jährlich an die 3,8 Millionen Touristenfahrzeuge im Land einschließlich der ausgeuferten Motorradplage. Einmal vor Ort unternehmen diese Gäste mindestens 56 Millionen Fahrten mit dem eigenen Kfz. Zusätzlich rollen jährlich über 11 Millionen PKW über die Brennerautobahn durch Südtirol, zum beträchtlichen Teil wiederum Touristen. Mehr Tourismus heißt unvermeidlich mehr Verkehr, mehr verbaute Fläche, mehr Lebensmittelimport und Abfall, mehr Energie- und Wasserverbrauch, mehr CO2-Emissionen. Mit den Zielen des Klimaplans Südtirol 2040 ist das alles völlig unvereinbar. Damit geht es in die Gegenrichtung, als ob der Klimawandel für den Tourismus nicht relevant wäre.

Begründet wird das weitere Wachstum seitens der Hotellerie und Politik mit der angeblichen Bedeutung des Tourismus für Wohlstand und Arbeitsplätze. Wohlstand kann aber in der (mit Mailand) reichsten Provinz des Staates nicht mehr bloß nach Wertschöpfung und Einkommen bemessen werden. Mit rund 11 Prozent Anteil an der Wertschöpfung ist der Tourismus zwar wichtig, aber nicht überragend. Verwiesen wird dann oft auf die sogenannten induzierten Effekte auf vorgelagerte Branchen wie Handel, Handwerk und Landwirtschaft, doch hätten auch andere Branchen wie die Industrie und öffentliche Dienstleistungen ähnliche Effekte. Wenn bestenfalls das Bauhaupt- und Nebengewerbe vom Tourismus profitiert, ist das insgesamt kritisch zu bewerten: noch mehr »qualitative Erweiterung« im landwirtschaftlichen Grün und noch mehr Wellnessanlagen und Luxushotelbauten sind für Landschaft, Umwelt und Klima nicht verträglich.

Dann die Geschichte mit den Arbeitsplätzen: Heute arbeiten in Südtirol zur Hochsaison über 50.000 Menschen abhängig und selbstständig im Tourismus. Ganzjahresarbeitsplätze gibt es in dieser Branche weit weniger. Im Jahresdurchschnitt liegt die Beschäftigtenzahl bei 37.500 (ASTAT 2023) und der Anteil des Gastgewerbes an der Gesamtbeschäftigung bei 14,2 Prozent. Die Arbeit im Tourismus weist eine vergleichsweise geringere Produktivität und unterdurchschnittliche Entlohnung auf. Solche Arbeitsplätze werden nach und nach von Zuwanderern übernommen. Südtirol mit seinem leergefegten Arbeitsmarkt braucht heute nicht mehr so viele Arbeitsplätze dieser Art. War das Gastgewerbe in den 1960er und 1970er Jahren die Rettung, um Abwanderung aus strukturschwachen Berggebieten zu verhindern, ist das seit Jahrzehnten nicht mehr so dringend. Heute emigrieren qualifizierte junge Leute, weil es eben nur mehr die Wahl zwischen Tourismus, Handwerk und Landwirtschaft gibt. Südtirol hat inzwischen zu viele unterbezahlte, nicht stabile, saisonale und unterversicherte Arbeitsplätze im Gastgewerbe. Zudem stellt sich in Zeiten des demografischen Wandels die Problematik neu dar. In den nächsten 10-15 Jahren wird sich der Personalmangel in verschiedenen qualifizierten Bereichen von der Pflege über das Handwerk bis zum Bildungssystem verschärfen. In dieser Situation gereicht zu viel Tourismus zum Schaden, weil er tausende junge Erwerbstätige absorbiert, die in anderen Bereichen sozial, ökologisch und sogar wirtschaftlich sinnvoller tätig sein könnten.

Der Heimatpflegeverband setzt sich seit Jahren für einen maßvollen und nachhaltigen Tourismus ein. Die frühere Bedeutung des Tourismus für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres Landes steht außer Zweifel. Doch heute geht es darum, endlich die Grenzen des Wachstums dieser Branche wahrzuhaben. Laut einer repräsentativen Studie (Bausch/Tauber, Lebensraumqualität Südtirol: Studie zur subjektiven Wahrnehmung der Lebensqualität durch die Südtrioler Bevölkerung, Freie Universität Bozen, Bruneck-Bozen 2023) nimmt die Mehrheit der Bevölkerung den Tourismus in drei Bereichen — Verkehr, Lebenshaltungskosten, Immobilienmarkt — negativ oder sehr negativ wahr. Wollen wir diese Sorgen ernst nehmen? Zudem bedroht das Übermaß an Tourismus mit seinem Dichtestress auch die Grundlagen der touristischen Attraktivität selbst: die intakte Natur- und Kulturlandschaft, die Umwelt, den Erholungswert, die kulturelle Authentizität. Die Gäste treten sich auch nicht gerne gegenseitig auf die Füße. Südtirol wirkt heute vielfach wie ein bis zum letzten Winkel befahrbarer Freizeitpark, der mit Mühe und Not den Besucherandrang zu managen versucht. Das mindert mehr und mehr die Lebensqualität der Einheimischen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu öffentlichem Protest wie auf den Balearen, Kanaren, Barcelona, Florenz und Venedig kommt.

Für nachfolgende Generationen ist dieses Übermaß an touristischer Inwertsetzung mehr Last als Chance. Nicht zufällig bringen zwei Ladinerinnen dieses verbreitete Unbehagen am Übertourismus in der neuen Publikation auf den Punkt: »Warum bauen wir immer mehr aus, wenn die Bevölkerung sinken wird?«, fragt Valentine Kostner aus St. Ulrich, »für wen bauen wir zusätzliche Hotels und Wohnungen? Für diejenigen, die im Gastronomiesektor arbeiten wollen, gibt es Arbeit genug. Für manche ist für Generationen schon vorgesorgt, während für andere das Leben im Tal nicht mehr leistbar sein wird. Wenn es so wenig Nachkommen gibt, wer übernimmt einmal all diese Hotels?«

»Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und einer die Gesellschaft und Umwelt nicht überfordernden Dimension der Branche zu schaffen«, sagt Elide Mussner, Tourismusreferentin der Gemeine Abtei/Badia, »es geht um die Verantwortung für das Gemeinwohl und die Lebensqualität, die auch die Tourismusunternehmer mittragen müssen.«

In diesem Zusammenhang hat kürzlich ein früherer IDM-Manager behauptet, das Land würde nicht uns gehören, sondern wir zum Land. »Dies wirft die Frage auf«, so Heimatpflege-Obfrau Claudia Plaikner in ihrem Vorwort zur neuen Publikation, »ob wir etwa zu Statisten dieses Landes degradiert werden sollen und dem boomenden Tourismus freundlich lächelnd und still zu dienen haben. Freilich ‚gehört‘ uns das Land nicht wirkich. Nichts gehört uns wirklich und für immer: Wir haben es von den Generationen vor uns übernommen und leihen es lediglich von denen, die nach uns kommen. Aber jede Generation hat jeweils eine ganzheitliche Verantwortung zu tragen.«

Das Buch

Heimatpflegeverband Südtirol/POLITiS (Hg.), Heimat oder Destination Südtirol? Tourismus in Maßen statt in Massen, Verlag arcaedizioni Lavis, 2024, 208 Seiten, ISBN 978-88-88203-95-9. Euro 20,– | Kurzvorstellung.

Ein Sammelband mit Beiträgen von Claudia Plaikner, Josef Rohrer, Hans Heiss, Thomas Benedikter, Hanspeter Niederkofler, Leonhard Resch, Stefan Perini, Wally Kössler, Michele Nardelli, Albert Willeit, Gerd Estermann, Elide Mussner, Florian Trojer, Alexander van Gerven, Christine Baumgartner, Hanspeter Staffler, Hanna Battisti, Michil Costa. Mit Fotos von Lois Hechenblaikner, Hanna Battisti, Albert Willeit und anderen und einem Gedicht von Sepp Mall.


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Comentârs

One response to “Tourismus in Maßen statt in Massen.
Neuerscheinung »Heimat oder Destination Südtirol?«

  1. G.P. avatar
    G.P.

    Sehr guter, sehr treffender Beitrag. Diesen Artikel sollten sich alle zuständigen Politiker und Fachleute
    zu Gemüte führen und er sollte sie – bestenfalls – nachdenklich stimmen.

Scrì na resposta

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