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Nur 1.700 Euro wert.

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Kaputte Herzklappen und nur Pflegestufe eins

Das Pflegegeld für meine kranke Mutter wurde überwiesen: 1.700 Euro. Für drei Monate. Am 17. Juli 2024. Die Mutter kam nicht mehr in den »Genuss« dieses Geldes, weil sie vorher verstarb. Am 27. Februar. Wie von den behandelnden Ärzten vermutet und angedeutet.

Spät, aber immerhin. Als Steuerzahler:innen müssen wir pünktlich zahlen, als Parksünder genauso, ebenso bei schnellem Fahren oder anderem Fehlverhalten. Die öffentliche Hand handelt ihrerseits irgendwie willkürlich, wenig bürgerfreundlich.

Trotz ihrer desolaten Herzklappen — Aussichten auf irgendeine Verbesserung gab es keine — erhielt sie nur die Pflegestufe eins. Bisschen mehr als 500 Euro monatlich, weil die Selbständigkeit wegen der kaputten Herzklappen angeblich nur gering beeinträchtigt war. Wie kommt eine Expertenkommission, die berühmt-berüchtigte Invalidenkommission (Rai Südtirol, 2020), zu einer solchen Einschätzung?

Die Fassade ist herausgeputzt, glänzend, alles überstrahlend. Innen sind die Schatten hingegen lang und manchmal auch düster: Südtirols Sozialsystem. 

»Kollektiv« gesehen, laut Statistik, steht der Südtiroler Sozialstaat gut da. Im Vergleich zum restlichen Italien. Wohl auch deshalb besorgen sich italienische Staatsbürger einen Wohnsitz in Südtirol, um einen Platz in einem Altenheim zu ergattern, wie Landtagsabgeordnete Maria Rieder vom Team K sagt. Das spricht für Südtirols Pflegesystem.

Die Einzelfälle machen es aber aus und diese ergeben ein anderes Bild. Und Einzelfälle gibt es sehr viele. Wie die überlangen Wartelisten. Wir haben unsere Mutter bei gleich vier Pflegeheimen angemeldet, Warteplatz 20 und aufwärts. 

Es ist nicht alles Gold was glänzt

Es fängt schon damit an, dass nur 4.400 ältere Menschen in Pflegeheimen betreut werden. Die Senior:innen über 65 stellen bereits ein Fünftel der Bevölkerung, satte 100.000 Menschen. Zwei Drittel davon fühlen sich fit; und was ist mit den restlichen 30.000? Die schwindeln sich durch ihr restliches Leben. Hinzu kommen 45.000 — von der Invalidenkommission bestätigte — Zivilinvaliden (möglicherweise ist die Zahl in Wirklichkeit höher). Was passiert mit ihnen im Alter? 

Derzeit gelten 16.000 Senior:innen als pflegebedürftig. Tendenz steigend. Im Jahr 2021 betrug der Anteil der Südtiroler:innen mit mindestens einer chronischen Krankheit an der Gesamtbevölkerung mehr als 30 Prozent. Ein Drittel, 160.000 Personen. Berücksichtigt man nur die ältere Bevölkerung (ab 65 Jahren) so leiden 78 Personen von 100 an mindestens einer chronischen Krankheit. 

Zu diesen chronisch kranken Seniorinnen zählte auch meine Mutter. Kaputte Herzklappen, irreparabel. Ihr Kardiologe teilte mit, dass es nur mehr darum gehen wird, ihr mit Medikamenten das Leben zu »erleichtern«. Zitat: »In der heutigen, hypertechnologischen Medizin haben wir oft die Schwierigkeit, dass Eingriffe zwar technisch machbar sind, aber das Ziel, die Lebensqualität des Patienten zu verbessern verfehlen.«

»Die Entscheidung, welche Prozeduren unter diesem Aspekt auch sinnvoll sind, gehört zu den schwierigsten Aufgaben eines Arztes«, fügte der Arzt noch hinzu.

Was dann folgte war ein hilfloser und ohnmächtiger »Lauf« durch das Gesundheitssystem in den Tod. Die Vorgeschichte ist keinen Deut besser. Meine Mutter überstand 2017 einen Herzinfarkt, die behandelnden Ärzte ließen uns wissen, dass ihr nur mehr eine begrenzte Lebenszeit zur Verfügung steht. Die Herzklappen funktionierten nur mehr bedingt. Und irgendwann dann nicht mehr. 

Nix Rollator!

Als es dann im letzten Jahr, ohne entsprechende Begleitung des Hausarztes, rapide abwärts ging, wurde sie im Krankenhaus zwei lange Monate wieder hochgepäppelt. Es schien, als ob. Auf Empfehlung des behandelnden Arztes sollte meine Mutter einen Rollator erhalten. Das zuständige Amt winkte ab, »so geht das nicht«, war die nicht sehr patientenfreundliche Antwort der Invaliden-Bürokraten. Um zu einem Rollator zu kommen, ist das Urteil der Invalidenkommission grundlegende Voraussetzung. 

Ob die Politik davon weiß, wie demütigend der Spießrutenlauf für die Senior:innen vor dieser Kommission ist? Die meisten alten Menschen werden vom Weißen Kreuz (oder vom Roten Kreuz) zur Kommission gebracht, eben weil sie irgendwie mehr oder weniger invalid sind, weil ihre Selbstständigkeit stark eingeschränkt ist, weil der »Transport« professionell abgewickelt werden muss. 

Die Anhörung gleicht eher einem Verhör. Die alten Menschen werden zu Bittstellern degradiert, klein gemacht. Und die Betroffenen spielen auch mit. Denn, wer gibt denn schon gerne zu, arm, gebrechlich, hilflos zu sein? Das Sonntagsgeschwafle über die Aufbauleistung der Senior:innen, ein Hohn. Haben sich das die alten Leute verdient? 

Der Fall meiner Mutter ist einer von vielen. Und trotzdem, niemand traut sich aufzubegehren. Aus Angst vor unbequemen Sanktionen? Warum werden alte Menschen vor dieser Kommission zu Bittstellern degradiert?

Mit Pflegestufe eins in den Tod

Meine Mutter konnte nach einem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt in eine Scheinnormalität zurückkehren, weil »hergerichtet«. Und dieser Schein reichte dem Team des Landesamtes für Pflegeeinstufung aus, der 86-jährigen alten Frau — stark abgemagert und nur mehr bedingt gehfähig — nur die Pflegestufe eins zuzuerkennen. Unfassbar, bei kaputten Herzklappen.Pflegegrad eins bedeutet eine »geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit«.

Es war ein Spießrutenlauf für unsere Mutter und für uns Geschwister, den wir hautnah miterlebt haben. Und zwar von der »Anhörung« vor der Invalidenkommission bis zum Besuch des Pflegeteams, beantragt beim Landesamt für Pflegeeinstufung, zuhause bei der Mutter. Beides hängt, obwohl organisatorisch getrennt, eng zusammen, scheint verzahnt zu sein, oft sind es aber zwei Systeme — nicht mit- sondern nebeneinander.

Doch der Reihe nach: Im Sommer 2023 wäre unsere Mutter — die Herzklappen funktionierten kaum mehr — beinahe gestorben, die Ärzt:innen im Krankenhaus in Bozen holten sie wieder zurück. 

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus erhielt unsere Mutter eine weiterführende Betreuung in der Bonvicini-Klinik, dort wurde sie aufgepäppelt und anschließend nach Hause entlassen. Der Sprengel werde ihr zur Seite stehen, so die Auskunft der Klinik.

Das Versprechen der begleitenden Versorgung zuhause konnte nicht eingelöst werden. Die von den Krankenhausärzten verschriebenen Hilfsmittel konnten nicht besorgt werden, weil die Invalidenkommission noch nicht befunden hatte, ob die dem Tod entkommene und an nicht funktionierenden Herzklappen leidende alte Frau tatsächlich invalid ist. 

Kontrolle statt Hilfe

Überraschend schnell wurde unsere Mutter dann vor die Kommission zitiert, die die »Anerkennung der Zivilinvalidität« feststellte. Die die Mutter begleitende Schwester hatte den Eindruck, es geht mehr um Kontrolle als um Hilfe. »Das Ergebnis der Untersuchung (die Invalidität) wird der Agentur für soziale und wirtschaftliche Entwicklung übermittelt, die die Voraussetzungen für die finanziellen Leistungen überprüft«, heißt es auf der entsprechenden Seite des Bürgernetzes.

Die Invalidenkommission, angesiedelt im Gesundheitsbetrieb, kooperiert mit der entsprechenden Landesagentur. Die Invalidität wurde also festgestellt, offen war noch die Unterstützung durch das Pflegegeld. Voraussetzung dafür: die Einstufung in eine der vier vorgesehenen Pflegestufen samt Pflegegeld. Die Schwester deponierte frühzeitig beim Landesamt für Pflegeeinstufung die »Prüfung«.

Einige Zeit später meldete sich dann das Pflegeeinstufungsteam bei unserer Mutter. Die Zivilinvalidität war gegeben, festgestellt von der Invalidenkommission, das Team vom Amt für Pflegeeinstufung sollte den Grad der Pflege ermitteln. 

Eigentlich wollte ich mich mit meiner Kritik an diesem Team zurückhalten, der Job ist zweifelsohne nicht einfach. Es gibt tausende Zivilinvaliden, deren Pflegegrad ermittelt werden muss. 

Glaubt man dem Informationsblatt zur Pflegeeinstufung, wird breit gefächert abgefragt. Zitat: »Das Einstufungsteam macht sich ein Bild darüber, was die pflegebedürftige Person selbst kann und wobei sie Hilfe braucht. Die pflegebedürftige Person oder die Pflegeperson wird gebeten, den Tagesablauf zu schildern und eventuell einzelne Verrichtungen vorzuzeigen. Das Einstufungsteam fragt nach dem Hilfebedarf der pflegebedürftigen Person in folgenden Bereichen: Körperpflege; Essen und Trinken; Hilfe beim Toilettengang; Bewegung und Mobilität; Beschäftigung und Tagesgestaltung; Kommunikation und soziale Beziehungen.«

Wie kommt nun dieses Team dazu, nach der präzisen Prüfung, der Mutter nur die Pflegestufe eins zuzuerkennen? Diese sieht einen Pflege- und Betreuungsbedarf von höchstens vier Stunden täglich vor. 

Aber schon damals war Fakt, daß ohne Hilfe der »Badante« keine Körperpflege möglich war, genauso wenig der Gang zur Toilette und wieder zurück, die Bewegung und Mobilität war drastisch eingeschränkt, Kommunikation und soziale Beziehungen waren spärlich, einzig Essen und Trinken am Tisch, eingepackt im Rollstuhl, war möglich. Pflegestufe eins?

Ich wiederhole mich, trotzdem, nicht mehr funktionierende Herzklappen schaffen es grad auf die Pflegestufe eins? 

Die Rückkehr vom Krankenhaus nach Hause öffnete die Spirale nach unten. Von wegen nur eine geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. Ohne die tatkräftige Hilfe der ukrainischen Pflegefrau hätte meine Mutter nicht den Tag herumgebracht. Selbständigkeit sieht doch anders aus?

Der Tag war noch schaffbar, irgendwie. Mal auf dem Sofa und dann auf dem Rollstuhl sitzend schaute sie TV und schlief dabei ein. Der Rollator war nicht mehr notwendig, weil sie nicht mehr gehen konnte. Pflegestufe eins?

»Leben« am Lebensende

Eine Qual war die Nacht, für die Mutter, für die »Badante«, für meinen Bruder. Mutter »randalierte«, konnte nicht mehr schlafen, wegen des Wassers in der Lunge meinte sie zu ertrinken. Sie nässte, musste gewechselt werden, wie ein Baby. Ihr war es oft peinlich, dann sagte sie, das habe sie nicht gewollt. Mit Tränen in den Augen. Das »Leben« am Lebensende. Geringe Beeinträchtigung? 

Ich habe mir an jenen Tagen gewünscht, dass sich die Invalidenkommission und das Pflegeeinstfungsteam um das Sterbebett meiner Mutter versammelt hätten. Die »geringe Beeinträchtigung«, festgestellt vom Team, endete nach drei Monaten mit dem Tod. 

Dazu ein Zitat einer Bekannten, die es einfach zum Schämen findet, »wie unsere alten Leute vorgeführt werden«. Besonders ärgerlich empfand sie den Besuch der Kommission zur Pflegeeinstufung. »Einfach erniedrigend und schlimm« soll die Visite abgelaufen sein. »Unsere alten Leute haben ihr ganzes Leben lang gebuggelt und jetzt sind sie Bittsteller.« 

Invalidenkommission plus Pflegeeinstufungsteam stehen nicht auf der Seite der Senior:innen.


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