Unabhängigkeitsbewegungen weltweit und auch in Europa streben danach, die Auslegung des Rechts auf Selbstbestimmung so zu verändern, dass es ausdrücklich auch Teilgebiete souveräner Staaten berücksichtigt, insbesondere wenn dort sprachlich-kulturelle Minderheiten angesiedelt sind. Die Entkolonialisierung soll demnach in einem umfassenderen Sinn verstanden werden — eine Ansicht, die auch der derzeitige UN-Sonderberichterstatter für Minderheiten, Nicolas Levrat, teilt. Im Laufe der Jahrzehnte war das Recht auf Selbstbestimmung immer wieder interpretativen Veränderungen ausgesetzt, die seinen Umfang erweitert haben — so wie Recht im allgemeinen nicht starr, sondern im steten Wandel ist.
Die separatistische korsische Linkspartei Nazione hat nun mitgeteilt, Kontakt mit der zuständigen Gruppe C-24 der UNO aufgenommen zu haben, um die Möglichkeit der Eintragung von Korsika ins Verzeichnis der »Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung« gemäß Artikel 73 der UN-Charta abzuklären. Gebieten, die auf dieser Liste aufscheinen, steht im Sinne der Entkolonialisierung die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zu.
Nazione möchte das Thema zwar auf die politische Agenda setzen, betont jedoch, dass die Aufnahme in die UN-Liste eine gemeinsame Aufgabe der autonomistischen und separatistischen Parteien sowie der korsischen Bevölkerung sein muss. Die Anfang dieses Jahres gegründete Partei — eine Fusion von Corsica Libera mit weiteren Projekten und Bewegungen, die die staatliche Unabhängigkeit befürworten — weist darauf hin, dass selbst eine starke Autonomie nicht gegen eine Eintragung spreche. Im Gegenteil habe Frankreich die Wiederaufnahme von Französisch-Polynesien in das Verzeichnis 2013 nicht verhindern können, obwohl Paris unter anderem auf die ausgedehnten Selbstverwaltungsrechte der Pazifikinseln hingewiesen hatte. Auch ein aufgrund eines Machtwechsels in letzter Sekunde eingelangter Entscheid des polynesischen Parlaments habe die Eintragung nicht mehr aufgehalten, da die objektiven Kriterien nach Ansicht der Mehrheit erfüllt waren.
Nazione gibt zu bedenken, dass für die Klassifizierung als »Hoheitgebiet ohne Selbstregierung« die Unterstützung der blockfreien Staaten, die schon bei der klassischen Entkolonialisierung eine wichtige Rolle gespielt haben, ausschlaggebend sei. Übrigens war auch bezüglich Südtirol das Abstimmungsverhalten blockfreier Staaten entscheidend, als Österreich die mangelhafte Umsetzung des Pariser Vertrags vor die UNO gebracht hatte.
Von Selbstregierung könne man zudem — so die korsischen Separatistinnen — nicht reden, wenn der Staat in Verhandlungen mit dem kontrollierten Gebiet um seine Autonomie rote Linien aufstelle, also gewisse Bereiche a priori von der Selbstverwaltung ausschließe. Zwölf von 17 derzeit offiziell zu entkolonialisierenden Ländern unterlägen derzeit übrigens der Herrschaft europäischer Staaten. Eines, nämlich Gibraltar, befindet sich sogar auf dem europäischen Festland.
Einen Faktor, den Südtirol im Unterschied zu Korsika nicht für sich ausspielen könnte, ist die sogenannte »Salzwasserregel«. Demnach sei die Tatsache, dass sich zwischen dem Mutterstaat und dem beantragenden Gebiet Salzwasser — also ein Meer oder Ozean — befinde, in der Regel von Vorteil für die Eintragung.
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