Ich — Jahrgang 1967, politologisch verbildet — möchte vier kurze Episoden (teils selbst erlebt, teils verbürgt berichtet) schildern, die Schlaglichter auf die Entwicklung der »Identität« in Südtirol und deren »Rückspiegelung« in Nordtirol werfen
von Werner Pramstrahler
Drei Episoden: »Speak Italian or English« versus »media o grande«
Juli 2024: Tag des Tennisspiels zwischen der für Tschechien startenden Barbora Krejcikova und der für Italien startenden Jasmine Paolini. Ich warte in einem renommierten Sterzinger Lebensmittelgeschäft auf meine Bestellung. Vor mir bedient die Geschäftsinhaberin die Inhaberin eines benachbarten Geschäfts — beide Frauen sind best-agerinnen. Auf die Frage der einen, ob die »Unsere« denn das Tennismatch gewonnen habe, kommt die Antwort, dass leider die »Falsche«, also nicht die »Unsere«, Siegerin geworden sei. Trotz jahrhundertelanger gemeinsamer Geschichte und kultureller Nähe sind die Tschech:innen mittlerweile die »anderen« und die »Falschen«, die Italiener:innen — auch die ohne jeglichen Südtirolbezug — ganz offenbar die »Unsrigen«. Sommer 2023: In einer Wipptaler Schutzhütte nahe der österreichischen Grenze antwortet die Bedienung auf eine in deutscher Sprache vorgetragene Bierbestellung: »Please in English or Italian; I don’t speak German.« Juli 2024: Auf einer Schnalser Schutzhütte ist die Bedienung unverkennbar Norddeutsche. Als italienische Gäste auf Italienisch »una birra bionda, prego« bestellen, erhalten sie prompt in bundesdeutsch gefärbtem Italienisch die Gegenfrage: »media o grande?«
Vierte Episode: Ein Sterzinger? Kannst mit dem Deutsch sprechen?
Meine in der Silberstadt Schwaz wohnende Lebensgefährtin wird nach wie vor in ihrem Nordtiroler Bekanntenkreis gefragt, ob sie denn jetzt Italienisch lerne, um sich mit mir, einem »Sterzinger«, problemlos unterhalten zu können. Sterzing ist in Nordtirol durchaus bekannt und beliebt, wird jedoch als italienischsprachig wahrgenommen. Dieser Eindruck wird durch Verkäuferinnen und Bedienungen aus »Restitalien« verstärkt; Arbeitskräfte, die oft nur begrenzt oder gar nicht der deutschen Sprache mächtig sind. Hinzu mag kommen, dass Nordtiroler:innen italienische Feriengäste und Zweitwohnungsinhaber:innen in Sterzing als »Einheimische« wahrnehmen. Die Südtiroler:innen könnten zwar Deutsch, sprächen aber untereinander vorwiegend Italienisch, so die Meinung, die mir auf meine Nachfragen bereits mehrfach von Nordtiroler:innen eröffnet wurde. Obwohl ich es nachvollziehen kann, finde ich es bedauerlich: Südtirol ist mittlerweile in Nordtirol bis auf Restbestände keine positiv besetzte Herzensangelegenheit mehr. Individuell werde ich zwar als »Auch-Tiroler« akzeptiert, aber das umfasst nicht mehr Südtirol.
Die »Minoranza dominante in Sud Tirolo« hat sich verflüchtigt
Pflichtlektüre während meines Studiums: Flavia Pristingers 1978 erschiene Publikation La minoranza dominante nel Sud Tirolo. Darin analysiert Pristinger die Dominanz der deutschsprachigen Bevölkerung in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen nach dem Abschluss des Zweiten Autonomiestatuts. Diese Dominanz manifestierte sich in einer stärkeren Vertretung in politischen Institutionen und in einem überproportionalen Einfluss auf die regionale Wirtschaft. Ein zentraler Punkt in Pristingers Analyse ist — ein nach wie vor aktueller Erklärungsansatz — das Konzept des sozialen Kapitals. Die deutschsprachige Gemeinschaft verfüg(t)e über dichte Netzwerke und starke institutionelle Bindungen, die ihre soziale Kohäsion und politischen Einfluss stärken. Dies führ(t)e zu Ungleichheiten, die nicht nur die ökonomische Ressourcen beträfen, sondern auch die kulturelle Repräsentation und politische Teilhabe. Stichwort: der bis zur intellektuellen Ermüdung diskutierte »disagio degli italiani«.
Wiederum episodisch und plakativ
Ich darf wiederum episodisch und plakativ werden. Mit Bedauern stelle ich eine nahezu flächendeckende Erosion der an Tirol und an Österreich orientierten Südtiroler Identität fest. Wo ist die Südtiroler »Linke«, die etwa mit der österreichischen Sozialdemokratie im Austausch ist? Wo sind die grenzüberschreitenden Initativen für den Schutz des Lebensraumes angesichts der Transitbelastung? In meinem persönlichen Umfeld beobachte ich vielmehr, dass viele Südtiroler:innen — auch meiner Generation — sich problemlos eine Identität als deutschsprachige Italiener:innen überstreifen.
Dies mag — auch — eine Folge der Tirol gegenüber geschürten Ressentiments (»sture Tiroler Verkehrspolitik«, »österreichische Arroganz«) sein, der Verharmlosung der rechtspopulistischen und nationalistischen Fratelli d’Italia durch maßgebliche Südtiroler Medien und der ungebremsten Italophilie in der Sportberichterstattung — einem Instrument, das in allen Ländern zur Verstärkung nationalstaatlicher Identifikationen genutzt wird. Gerade in Zeiten von Fußball-Großereignissen gerate ich immer wieder in die paradoxe Situation, dass ich von deutschsprachigen Südtiroler:innen als nationalistisch tituliert werde, weil ich eben nicht ein »tifoso« der italienischen Nationalmannschaft bin. Mir fehlen die psychologischen Grundkenntnisse, um eine solche Meinungsäußerung und die dahinter liegende Haltung angemessen einordnen zu können.
Wer es analytischer mag, dem sei die Publikation von Michael Billig, Banal Nationalism (London: Sage Publications, 1995) ans Herz gelegt. Kurzfassung: Das Konzept des banalen Nationalismus postuliert, dass nationale Identitäten und Nationalismus nicht nur in extremen, sichtbaren Formen wie militärischen Paraden oder politischen Demonstrationen existieren, sondern auch in alltäglichen, scheinbar trivialen Handlungen und Symbolen tief verwurzelt sind. Billig argumentiert, dass dieser alltägliche, deshalb »banale« Nationalismus eine subtile, aber pervasive Präsenz in unserem täglichen Leben hat und wesentlich zur Reproduktion nationaler Identitäten beiträgt.
…wenn der Wille zur Selbsterhaltung nicht abstirbt
Ich hatte die Ehre, als Oberschüler den in meiner Nachbarschaft wohnenden Friedl Volgger wenige Male zu sehen und auch mit ihm zu sprechen. Er hat argumentiert, dass die Südtirolautonomie eine Grundlage biete, weiterhin als Tiroler leben zu können, wenngleich Südtirol dem »falschen Staat« angehöre. Seine Einschränkung: wenn der Wille zur Selbsterhaltung nicht abstirbt.
Nun scheint es so weit zu sein. Ich gebe zu, dass ich das sehr traurig finde und mich zunehmend als »letzter Mohikaner« fühle.
Dieser Beitrag wurde auch auf Salto veröffentlicht.
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