Vor Kurzem traf zum ersten Mal der neue »Tourismusrat« zusammen, einberufen von Tourismus-LR Luis Walcher (SVP). Dem Gremium gehören die Vertreter der Tourismuswirtschaft, die Handelskammer und der Gemeindenverband an, keine einzige zivilgesellschaftliche Organisation. Treffender wäre somit die Bezeichung »Tourismuslobbyrat«. Wichtigstes Thema gleich zu Beginn: Wie kann die Akzeptanz des Tourismus erhöht werden, die sogenannte »Tourismusgesinnung«? Denn nachweislich sind immer mehr Südtiroler dem Tourismus nicht mehr so freundlich gesinnt wie vielleicht noch vor 30-40 Jahren. Laut einer Studie der Universität Bozen nimmt eine Mehrheit der Bevölkerung die Auswirkungen in zumindest drei Bereichen als sehr oder überwiegend negativ wahr: Immobilienpreise, Verkehrsbelastung und Lebenshaltungskosten. Kein Wunder, dass LR Walcher gleich zu Beginn den Akzent auf die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus für »unseren« Wohlstand legen möchte. Doch ist dem noch so? Braucht es Übertourismus, um den Wohlstand zu sichern?
Aus mehreren Gründen ist diese These nicht mehr haltbar. Zunächst kann heute Wohlstand lange nicht mehr nur nach Wertschöpfung und Einkommen bemessen werden. Es gibt umfassendere Maße für Lebensqualität, die auch das Land Südtirol anwendet, wie den SDG-Tracker oder das wenig bekannte BES (Benessere equo e solidale). Dort schneidet Südtirol im inneritalienischen Vergleich gut ab, aber nicht wegen des Übertourismus. Auch bei der Wertschöpfung ist der Tourismus mit rund 11% Anteil nicht von solch überragender Bedeutung, wie von Lobbys immer behauptet. Verwiesen wird auf die induzierten Effekte in vorgelagerten Branchen wie Handel, Handwerk und Landwirtschaft. Die Vorleistungen der Südtiroler Landwirtschaft an den Tourismus sind aber überraschend gering, weil der Löwenanteil der Lebensmittel im heimischen Gastgewerbe importiert wird. Zum anderen hätten auch andere Branchen wie die Industrie und Dienstleistungen ähnliche Effekte. Wenn bestenfalls das Bauhaupt- und -nebengewerbe vom Tourismus profitiert, ist das insgesamt kritisch zu bewerten: Noch mehr »qualitative Erweiterung« im landwirtschaftlichen Grün und noch mehr Luxus ist für Landschaft, Umwelt und Klima nicht verträglich, steigert keinen Wohlstand außer jenen der Hotelbesitzer.
Dann die Geschichte mit den Arbeitsplätzen: Heute arbeiten zur Hochsaison über 50.000 Menschen abhängig und selbstständig im Tourismus. Ganzjahresarbeitsplätze gibt es in dieser Branche weit weniger. Im Jahresdurchschnitt liegt die Beschäftigtenzahl bei 37.500 (ASTAT 2023, vgl. HGV). In der Wintersaison 2023-24 lag die Zahl der Mitarbeitenden bei 31.100. Der Anteil des Gastgewerbes an der Geamtbeschäftigung liegt bei 14,2% (STOST 2023). Die Arbeit im Tourismus weist eine vergleichsweise geringere Produktivität und unterdurchschnittliche Entlohnung auf. Solche Arbeitsplätze werden nach und nach von Zuwanderern übernommen. Südtirol mit seinem leergefegten Arbeitsmarkt braucht einerseits nicht mehr Arbeitsplätze dieser Art, andererseits werden auch Zuwanderer mittlerweile in anderen Sektoren dringender gebraucht. War das Gastgewerbe in den 1960er und 1970er Jahren die Rettung, um Abwanderung aus strukturschwachen Berggebieten zu verhindern, ist das seit Jahrzehnten nicht mehr so. Heute emigrieren qualifizierte junge Leute, weil es eben nur mehr die Wahl zwischen Tourismus, Handwerk und Landwirtschaft gibt. Südtirol hat inzwischen zu viele unterbezahlte, nicht stabile, saisonale und unterversicherte Arbeitsplätze im Gastgewerbe.
Doch in Zeiten des demografischen Wandels stellt sich die Problematik neu dar. In den nächsten 10-15 Jahren wird sich der Personalmangel in verschiedenen qualifizierten Bereichen von der Pflege über das Handwerk bis zum Bildungssystem verschärfen. In dieser Situation gereicht zu viel Tourismus zum Schaden, weil er tausende junge Erwerbstätige absorbiert, die in anderen Bereichen sozial, ökologisch und sogar wirtschaftlich sinnvoller tätig sein könnten. Von wem werden wir im Alter gepflegt? Von Robotern? Welche Techniker installieren klimafreundliche Heizungen für 80.000 Haushalte, die noch mit Gas und Öl heizen? Wer saniert zehntausende alte Häuser? Welche jungen Menschen lehren und erziehen auf allen Stufen? Zugespitzt: Alte Menschen rundum zu pflegen ist anspruchsvoller als hinter der Theke Cocktails aufzuschenken oder Wellnessbuden zu reinigen. Doch für den gesellschaftlichen Wohlstand sorgt nicht noch mehr Tourismus in einer Region, die schon 250.000 buchbare Betten aufbieten kann. Dies gilt auch für Migrantinnen, die für qualifiziertere Berufe ausgebildet werden können als bloß als Saisonniers im Tourismus. Hier kann die Politik Anreize setzen und die Weichen neu stellen.
»Den Südtirolern muss vor Augen geführt werden, was der Tourismus leistet und sie müssen verstärkt spüren, dass dieser Wirtschaftszweig jedem Einzelnen etwas bringt«, meinte LR Walcher beim Auftakt des Tourismusrats. Die vielen Nachteile geraten schnell unter den Teppich, wenn nur Interessengruppen am Tisch sitzen. Der neue Tourismuslandesrat wäre gut beraten, sich nicht die Beschwichtigung der besorgten Bevölkerung zum Hauptziel zu setzen, sondern das Hauptproblem zu bearbeiten: die exzessive touristische Vermarktung unseres Landes, der tourismusintensivsten Region der Zentralalpen.
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