Sind die Vertreter der Justiz der verlängerte Arm des Zentralstaates, der Souveränisten, die Minderheitenschutz, Mehrsprachigkeit und Autonomie ablehnen?
Beispiel 1: Gianluca Albo, Staatsanwalt beim regionalen Rechnungshof in Trient, findet, dass der Staat die Autonomie regelt. In einer »autonomen Realität«, führte der Staatsanwalt aus, sei die Präsenz des Staates noch wichtiger. Noch wichtiger als anderswo in der Republik, wird Albo meinen.
Relativ genervt reagierte Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) auf diese staatsanwaltschaftliche Feststellung. Die Autonomie sei keine Konzession des Staates, entgegnete Kompatscher, sondern Teil der staatlichen Ordnung, aufgrund eines Verfassungsgesetzes — eben das Zweite Autonomiestatut —, das wiederum die Folge des österreichisch-italienischen Pariser Vertrages von 1946 ist.
Weiß Staatsanwalt Albo nichts vom Pariser Vertrag und dem direkt damit zusammenhängenden Zweiten Autonomiestatut? Albo strickt am Märchen jener politischen Kräfte weiter, für die die Autonomie eine inneritalienische Angelegenheit ist. Also eine Konzession.
Macht der Staatsanwalt am regionalen Rechnungshof Politik? Wie auch die Verfassungsrichter, die seit 2001 Südtirols Autonomie gestutzt haben? Eine Autonomie, deren Quelle — wie bereits gesagt — ein Verfassungsgesetz und ein bilateraler Vertrag sind, der Teil der Friedensverträge war.
Beispiel 2: Die Richter des spanischen Obersten Gerichtshofs verweigern dem katalanischen Politiker Carles Puigdemont (Junts) die vom Parlament genehmigte Amnestie. Also bleibt der geltende Haftbefehl aufrecht, betonte der zuständige Richter Pablo Llarena. Laut diesem Gericht soll sich Puigdemont mit öffentlichen Geldern persönlich bereichert haben. Korruption.
Nicht von ungefähr bewertete die Puigdemont-Partei Junts die Entscheidung des Obersten Gerichts als politisch motiviert. Das Gericht versuche, die Befugnisse des Parlaments an sich zu reißen.
Diese Richter treiben Politik. Wegen der verweigerten Amnestie wird Junts der sozialistischen Minderheitsregierung voraussichtlich die Unterstützung entziehen. Das war der Deal. Folgende Neuwahlen werden die nationalkonservative Volkspartei PP an die Macht spülen, im Gespann die Chauvinisten von der Vox-Partei. Das scheinen die Richter anzustreben. Die spanische Justiz ist aufgrund von Ernennungen während der PP-Regierungen stockkonservativ bis reaktionär.
Beispiel 3: Spanische Bauern blockierten während ihrer Proteste kürzlich Autobahnen, Häfen und Städte. Die meisten dieser Proteste waren weder angemeldet, noch genehmigt. Die von der Plattform 6F gesteuerten Proteste legten das Land lahm, nahmen es in Geiselhaft. Aktionen von 6F endeten in Ausschreitungen, Sachbeschädigungen, Steinwürfen und Rangeleien mit der Polizei. Trotzdem schritt die Polizei kaum ein, hielt sich vornehm zurück. Nicht wie 2017, als die spanische Polizei katalanische Wählende niederknüppelte.
Hinter der Plattform 6F steht die neo-franquistische Partei Vox, eine der treibenden Kräfte hinter den organisierten Bauernprotesten. Die Protest-Lieblinge der Rechten, die Bauern, versuchten in Pamplona das Regionalparlament von Navarra zu stürmen. Vorbild Washington und der Sturm der Rechtsradikalen auf den Kongress.
Wie anderswo in der EU auch blieben die protestierenden Bauern in Spanien unbehelligt. Weil sie politisch auf der richtigen Seite stehen?
Beispiel 4: Der Fall Francisco Correa, ein Korruptionsskandal, in den zwischen 1999 und 2005 einige Unternehmer und Politiker der Volkspartei PP verwickelt waren. Es ging um Korruption, Unterschlagung, Geldwäsche und illegale Bereicherung. Ministerpräsident Mariano Rajoy (PP) war nur als Zeuge vernommen worden.
Richter Baltasar Garzón ermittelte in der Korruptionsaffäre, wurde aber vom Obersten Gericht abgesetzt und mit einem Amtsverbot belegt. Wollten die obersten Richter den konservativen Ministerpräsidenten Rajoy schützen? Politik der üblen Sorte, verpackt auch noch in Richterroben.
Beispiel 5: 2009 erklärten die Verfassungsrichter das neue katalanische Autonomiestatut, vom spanischen und vom katalanischen Parlament genehmigt und mit einem Referendum bestätigt, für verfassungswidrig. Mariano Rajoy rief als Oppositionsführer das Verfassungsgericht an, um die neue Autonomie zu Fall zu bringen. Das erledigten dann die Verfassungsrichter, als verlängerter Arm der PP, als angebliche Wächter der spanischen Verfassung und der beschworenen — weil als unantastbar geltenden — staatlichen Einheit.
Die Verfassungsrichter befeuerten damals mit ihrer Entscheidung die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, die zu einer parlamentarischen Mehrheit in Barcelona kam und dann das Unabhängigkeitsreferendum 2017 organisierte.
Beispiel 6: 2021 setzte der Verfassungsrat der französischen Republik ein vom Parlament mehrheitlich genehmigtes Minderheitenschutzgesetz außer Kraft. Französisch ist die alleinige Sprache der Republik, den im Gesetz vorgesehenen Immersionsunterricht in den Minderheitensprachen fanden die Verfassungsrichter nicht zulässig. Die Verfassungsrichter agierten wie das Rassemblement National: Es gibt nur die französische Nation.
Der inzwischen angeschlagene, wundgewählte, Präsident Emmanuel Macron kündigte 2024 an, Korsika mit einer Autonomie ausstatten zu wollen. Die rechte Opposition, möglicherweise nach dem zweiten Parlamentswahlgang an der Regierung, lehnt jede Form korsischer Autonomie ab. Macron ließ die Korsen wissen, dass ihre künftige Autonomie unter der Oberaufsicht des Staates, unter der Kontrolle des Präsidenten, seiner Regierung und des Parlaments stehen wird. Noch schärfer wird aber die Aufsicht der Verwaltungsjustiz und der Verfassungsrichter sein.
Es waren auch die Verfassungsrichter, die sich dagegen aussprachen, dass Frankreich die Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates — ein doch dürftiges Instrument des Minderheitenschutzes — ratifizierte. Begründung: Die Rahmenkonvention gefährde die Einheit des Staates und die französische Sprache verliere an Bedeutung.
Frankreich unterzeichnete 1999 zwar die Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates, ratifizierte die Charta aber nicht. Der damalige Premierminister Lionel Jospin legte sie dem Parlament erfolglos zur Ratifizierung vor.
Der französische Verfassungsrat befand nämlich, dass die Umsetzung der Charta unter anderem deshalb gegen die Verfassung des Landes verstößt, weil diese Französisch als Sprache der Republik vorschreibt.
Das Rassemblement National wird sich freuen. Der Justizapparat und die hohen Verfassungsrichter stehen fest auf seiner Seite.
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