Wir haben unsere Erde nur von unseren Kindern und Enkeln geliehen, lautet eine beliebte Weisheit. Eine neue Version gab gestern im RAI-Mittagsmagazin zum Thema Tourismus der ehemalige IDM-Direktor Thomas Aichner zum Besten. Sinngemäß: »Südtirol gehört nicht uns, sondern wir gehören zum Land.« Wenn ein Touristiker das sagt, ist wohl gemeint: die Bewohner der Destination gehören zum Land als Staffage im befahrbaren Freizeitpark. Eine Hörerin aus Lana entgegnete prompt, ihr Land wäre für Einheimische immer weniger zugänglich, denn immer mehr Gegenden müsse man meiden. Wie eine schleichende Enteignung. Ein Gastwirt aus Bozen schilderte das stundenlange Anstehen bei der Mendelbahn, weil E-MTB-Touristen ticketfrei die Einheimischen buchstäblich hinausdrängen.
In immer mehr Alltagssituationen lässt sich das nachvollziehen. In der tourismusintensivsten Region der Zentralalpen macht sich Dichtestress breit. Er ist greifbar, wenn man bei Seilbahnen und Museen ansteht, Gedränge in Bussen und Bahnen zu ertragen hat mit dem unguten Gefühl: die mitfahrenden Touristen fahren dank Gästepass so gut wie kostenlos, ich als Einheimischer zahle den Dienst doppelt, mit meinem Ticket und meinen Steuern. Dichtestress auch auf vielen Wanderwegen, die von auswärtigen Mountainbikern in Südtirol besonders eifrig genutzt werden, weil das in Deutschland und Österreich viel strenger geregelt ist. Ganz zu schweigen vom Dichtestress in Altstadtzentren, der unerträglichen Motorradplage auf Passstraßen, den notorischen Staus auf den Hauptverkehrsadern.
Wenn wir Arbeit und Wohlstand haben wollen, müssen wir uns das Land eben mit den Gästen teilen, würden IDM- und HGV-Leute sagen, die mit steuerfinanzierter Werbung die »Märkte bearbeiten« und über ihre Influencer die Social Media fluten, damit Ankünfte, Nächtigungen und Umsätze weiter nachhaltig, sprich permanent, steigen. Ob wir Einheimische den Tourismus in solchem Übermaß genießen wollen, hat man uns nicht gefragt, aber »wir gehören halt nur zu diesem Land«.
In den Restaurants wird es zur Saison eng, nichts geht ohne Vormerkung, die Talschlussparkplätze sind zugeparkt, die letzten Winkel der Badeseen belegen jetzt Touristen, auch diese treten sich gegenseitig auf die Füße. Eine schleichende Enteignung, weil Einheimische genötigt werden, überfüllte Orte und Gegenden zu meiden. Man meidet die Brennerautobahn, weil chronisch überlastet; im Sommer die Dolomiten, weil ein Rummelplatz; die Pässe, weil komplett verlärmt, die Touristenhotspots von Prags über Seiser Alm bis Villnöss ohnehin.
Die schleichende Enteignung betrifft vor allem auch die Minderheit der Mietwohnungssuchenden. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass man in Südtirol an die 6000 Wohneinheiten über Airbnb zu einem durchschnittlichen Tagessatz von 103 Euro buchen kann, aber fast keine leistbaren Mietwohnungen findet. Zahlungskräftige Käufer von auswärts haben immer den Vorrang auf dem Immobilienmarkt. Wohnungseigentümer, die an Langzeitmieter vermieten, staunen, dass die regierende Mehrheitspartei Airbnb-Anbieter gegenüber der Langzeitmiete sogar steuerlich begünstigt.
Schleichende Enteignung geht leichter, wenn man sich enteignen lässt, wenn sich zu viele Menschen ständig bevormunden lassen. Sie dauert an, weil das Touristikgewerbe die Regeln vorgibt, wie unser Land in Wert gesetzt wird, wohin die Subventionen fließen, wer die Werbung und Gästepässe finanziert, und wie stark das Land touristisch vermarktet wird. Sie funktioniert, weil sich die Politik dem Wachstumszwang unterwirft und Lebensqualität im eigenen Land nachrangig ist, weil wir als fügsame Destinationsbewohner zu diesem Land gehören, nicht dieses uns. Mit Verlaub, Herr Aichner, das Land mag uns nicht gehören, doch leben wir halt noch hier, während der Tourist nach vier Tagen wieder weg ist.
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