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Darum kolonial.

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Von einer Person, die sich selbst unter anderem mit Postcolonial Studies befasst und zum Beispiel auch mit der Forschung von Mia Fuller vertraut ist, wurde ich letzte Woche gefragt, warum bzw. inwiefern ich in Bezug auf jene zwischen Südtirol und Italien desöfteren von einer kolonialen Beziehung spreche.

Da diese Frage meiner Meinung nach für das Verständnis von bedeutend ist, möchte ich sie hier — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — öffentlich beantworten:

  • Die Analysen und die Argumente von Wissenschafterinnen wie Mia Fuller (01) und Roberta Pergher (02), die den Umgang des italienischen Staates mit Südtirol — zumindest im Faschismus — als kolonialistisch einstufen, finde ich einleuchtend und überzeugend.
  • Von ihren Erkenntnissen leitet sich ab, dass das Verhältnis zwischen dem italienischen Staat und Südtirol heute entweder weiterhin als kolonial oder als postkolonial einzuordnen sein müsste. Letzteres wäre der Fall, wenn eine »vollständige« Entkolonialisierung stattgefunden hätte, was meines Erachtens nicht der Fall ist. Bestenfalls ist es also, wenn überhaupt, eine Mischung aus kolonialen und postkolonialen Elementen.
  • Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg, auch nach Entstehung der italienischen Republik, zunächst keinen klaren Schnitt (im Sinne einer »Entkolonialisierung«) gegeben hat, ist bekannt. Im Gegenteil: Die Majorisierungspolitik wurde eifrig fortgesetzt, die Umsetzung des Pariser Vertrages bewusst hintertrieben, selbst noch die Fertigstellung faschistisch-imperialistischer Denkmäler in Südtirol vorangetrieben.1Das Mussolini-Relief am Gerichtsplatz wurde in den 1950er Jahren fertiggestellt. Das Ende der Diktatur kann also nicht als das Ende der kolonialen Beziehung angesehen werden.
  • Bis heute hatten die Südtirolerinnen keine Möglichkeit, frei und demokratisch über den Verbleib bei Italien zu befinden. Der italienische Staat und seine Vertreterinnen haben sich aber darüber hinaus auch noch nie offiziell für Annexion, brutale Assimilierung und Option entschuldigt (01).
  • Auch eine vollumfängliche (geschweige denn eine großzügige) Wiedergutmachung und Rückgabe enteigneter Güter hat nicht stattgefunden. (01 02 03)
  • Nicht nur die staatliche Zugehörigkeit unseres Landes durfte nie auf demokratischem Wege geklärt werden, bis heute ist Südtirol sogar ungefragt ins Korsett einer Region gezwungen, in der die deutsche und die ladinische Sprachgruppe in der Minderheit sind und die dem Land nach dem Zweiten Weltkrieg übergestülpt wurde, um das Autonomieversprechen ad absurdum zu führen. Die Abschaffung der Region wäre zwar rechtlich möglich, darf aber nicht von Südtirol selbst entschieden werden.
  • Nicht unwesentlich ist auch, dass große Teile von Südtirol — das ganze Land mit Ausnahme einiger Gemeinden des Unterlandes, die damals zum Trentino gehörten — weder beim Referendum über die Einführung der Republik, noch an den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung teilnehmen konnten. Obwohl das nicht vom Willen des italienischen Staates abhing, da der völkerrechtliche Status Südtirols damals noch nicht vollständig geklärt war, wurde auch in der Folge weder formal noch substantiell versucht, für eine demokratische Legitimierung zu sorgen.
  • Obschon sie sich in offiziellen Referenda großmehrheitlich dafür ausgesprochen haben, verweigert der Staat ladinischen Gemeinden, die von den Faschisten zum Zweck der besseren Assimilierung von Südtirol abgetrennt wurden, beharrlich die Wiedervereinigung, indem er sich die Argumente des Faschismus zueigen macht.
  • Als der Pariser Vertrag letztendlich doch noch (rechtlich) umgesetzt wurde, hat dies nicht freiwillig und aus Einsicht stattgefunden, sondern musste — gegen Italien — mithilfe der Schutzmacht Österreich vor der UNO erkämpft werden.
  • Die heutige Teilautonomie hat einiges entschärft, manches auch ganz aus dem Weg geräumt. Dennoch herrscht nach wie vor ein klares Machtgefälle vor: Von einem Verhältnis auf Augenhöhe kann nicht die Rede sein. Dies hat zum Beispiel zu tun mit
    • dem Vorrang der staatlichen Gesetzgebung selbst auf Gebieten, auf denen Südtirol primäre Befugnisse hätte (01 02);
    • Bereichen, die einer autonomen Ausgestaltung ganz entzogen sind oder
    • dem beharrlich autonomiefeindlichen Gebaren der Verfassungsgerichtsbarkeit (im Zusammenspiel mit den unzähligen Anfechtungen durch Regierungen jeder Couleur).
  • Wenn übrigens davon die Rede ist, dass die jetzige Autonomie die Umsetzung der »inneren Selbstbestimmung« sei, muss in Bezug auf den allgemeinen Kolonialismusbegriff darauf hingewiesen werden, dass unter den Regionen und Ländern, die auf der offiziellen Liste der noch zu entkolonialisierenden Gebiete aufscheinen, mehrere sind, deren Eigenregierung gegenüber der jeweiligen Kolonialmacht schon heute deutlich ausgeprägter ist als die von Südtirol gegenüber Italien. Das mindert ihren Anspruch auf (externe) Selbstbestimmung nicht.
  • Gar einiges, was in der Zeit des Faschismus aufgezwungen wurde, wirkt bis heute (ohne Zustimmung der Südtirolerinnen) unverändert fort. Insbesondere wurde auch die Ortsnamensfrage, damals eine wichtige Kolonialisierungsmaßnahme, nie gelöst, weil die nationalstaatliche Mehrheitsgemeinschaft verbissen und kleinlich an der vollständigen Beibehaltung erfundener, aufoktroyierter Bezeichnungen festhält. Selbst ein dürftiger Kompromiss auf Landesebene, dem auch die italienischen Abgeordneten der Mehrheit zugestimmt hatten, wurde vom Zentralstaat vor dem Verfassungsgericht angefochten, bis er letztendlich zurückgenommen werden musste, um einen Präzedenzfall zu vermeiden. Wo es sich äußern konnte, urteilte das Verfassungsgericht diesbezüglich höchst restriktiv. (01)
  • Das militärkartographische Institut, das für die offizielle Landeskarte zuständig ist, hat die deutschen und ladinischen Ortsnamen bis heute nicht übernommen, was sich negativ auf deren Amtlichkeit und internationale Verbreitung und Verwendung auswirkt. Nach wie vor sind ausschließlich die faschistischen Dekrete ausschlaggebend, die im Rahmen der Entnationalisierungspolitik erlassen worden waren. Eine Situation, die in diesem Ausmaß weltweit einzigartig sein dürfte.
  • Erst vor wenigen Jahren hat ein nationalistischer Alpenverein, der von den Enteignungen im Faschismus profitiert hat, im Zusammenspiel mit der Zentralregierung, die selbst mit Zwangsmaßnahmen (einschließlich der Entsendung des Militärs) gedroht hatte, die erneute volle Durchsetzung der faschistischen Ortsnamen bis zur letzten Alm (als eine Art Rekolonialisierung) erwirkt, deren Folgen bis heute währen. (01 02 03)
  • Sogar bei aggressiven und belastenden Bezeichnungen wie der des Bozner Siegesplatzes oder des Klockerkarkopfs2bis heute Vetta d’Italia lehnt die nationalstaatliche Mehrheitsgemeinschaft in Südtirol beharrlich eine Umbenennung ab.
  • Vielsagend ist auch, dass faschistische Denkmäler in Südtirol nicht in die Obhut der autonomen Institutionen gegeben, sondern als einzige einem externen, staatlichen Amt anvertraut wurden. Ihre teilweise Historisierung und Kontextualisierung wurde erst sehr spät und nur auf Druck aus Südtirol ermöglicht und niemals auf Initiative des Staates. Gegen den demokratischen Wunsch der Südtirolerinnen wird nach wie vor Geld in die Renovierung dieser beleidigenden Bauwerke investiert.
  • An anderen sogenannten faschistischen Relikten hat der Staat Historisierungsmaßnahmen sogar ausdrücklich untersagt, pflegt sie bis heute mit Steuergeldern und lässt dort militärische Ehrenveranstaltungen abhalten.
  • Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden natürliche Ressourcen, insbesondere die Wasserkraft, von staatlichen Firmen Jahrzehnte lang ausgebeutet. Der Reschenstausee mit der Flutung des Dorfes Graun wurde 1947-1949 auch aufgrund faschistischer Enteignungen umgesetzt. Die Bevölkerung wurde hinters Licht geführt, vor vollendete Tatsachen gestellt und bekam keinen Anspruch auf gleichwertigen Ersatz. Rund 70% der früheren Einwohnerinnen entschieden sich für die Abwanderung.
  • Die Verheißung der rechtlichen Gleichheit von italienischer und deutscher Sprache wurde nicht erfüllt. So hat bei Gesetzestexten der italienische Wortlaut grundsätzlich Vorrang. Und wie spätestens die Angelegenheit mit der sprachlichen Gleichberechtigung einsprachiger Ärztinnen gezeigt hat, ist das im Autonomiestatut enthaltene Prinzip der Sprachgleichstellung nur eine Grundsatzdeklaration: Im Einzelfall muss sie jedes Mal von zentralstaatlichen Institutionen beschlossen und freigegeben werden. Eine allgemeine und umfassende Umsetzung ist nicht vorgesehen.
  • Auch dort wo die Zweisprachigkeit rechtlich bereits umgesetzt wäre, wird sie von staatlichen, aber auch von manchen der autonomen Stellen3einschließlich jenen der größeren Städte systematisch und einseitig zu Lasten der deutschen Sprache verweigert. Das gilt auch für wichtige Dienste wie die Polizei, die sogar vor Beleidigungen nicht zurückschreckt.
  • Die Autonomie wird vom Staat bis heute restriktiv und dogmatisch, nicht sinngemäß und großzügig ausgelegt oder gar im Geiste der ursprünglichen Intention an gegenwärtige Bedürfnisse (Beispiel Digitalisierung) und Maßstäbe angepasst. Alles muss immer wieder von neuem äußerst mühsam erkämpft werden.
  • Gegen den ausdrücklichen Wunsch des Südtiroler Landtags wurde die Präfektur, der »Wachhund« Roms in Südtirol, niemals abgeschafft, obwohl es mit Aosta sogar bereits eine autonome Region gibt, die ohne diese zentralistische Behörde funktioniert. (01)
  • Während der Südtirolautonomie bis heute wichtige Bestandteile fehlen und andere, die bereits vorgesehen wären, nicht umgesetzt wurden, belegen auch wissenschaftliche Studien (01 02) eindrücklich, dass erhebliche Teile dessen, was 1992 von Österreich als Umsetzung des sogenannten Paketes anerkannt wurde, hauptsächlich durch die zentralistische Arbeit des Verfassungsgerichts wieder rückgängig gemacht und ausgehöhlt wurde.
  • Durch die Verfassungsgerichtsbarkeit wird der Anschein einer neutralen Rechtmäßigkeit vorgetäuscht, die so nicht existiert, da Ermessensspielräume konsequent (und oft sogar »kreativ«4das Verfassungsgericht hat sich zum Beispiel sogenannte Querschnittkompetenzen ausgedacht) zugunsten des Zentralstaats genutzt werden. Ein Landesverfassungsgericht, wie es Sizilien bereits hatte, existiert hingegen nicht. (01 02)
  • Bis heute halten staatliche Institutionen daran fest, Südtirolerinnen ungefragt kollektiv als Mitglieder der nationalen Gemeinschaft zu vereinnahmen (01 02 03) und die entsprechende Loyalität einzufordern — insbesondere auch im Sport (01 02).
  • Eine Bilingualisierung findet einseitig in Südtirol und nicht auch auf Staatsebene statt. Während zum Beispiel andere Länder allmählich die zentralstaatlichen Parlamente für die Sprachen öffnen (01 02), die auf dem Staatsgebiet gesprochen werden, ist dies in Italien nicht der Fall. (01 02)
  • Als sich der Kriegseintritt Italiens gegen Österreich-Ungarn 2015 zum 100. Mal jährte, war dies für das offizielle Italien kein Anlass für eine Entschuldigung. Ganz im Gegenteil: Das Regierungskommissariat wies die Südtiroler Gemeinden sogar an, zur Feier die italienische Flagge zu hissen.
  • Ganz allgemein hält sich der Zentralstaat mit dem Aufzwingen seiner nationalen Symbolik nicht zurück. So muss die Staatsflagge auch in Südtirol auf öffentlichen Gebäuden gehisst werden und selbst massive Äußerungen von Nationalismus werden ungefragt oktroyiert.
  • Die Streitkräfte wurden nie zurückgezogen, sondern tragen sogar nach wie vor aktiv zur Assimilierung bei. Zwar ist die Wehrpflicht in Italien derzeit ausgesetzt, davon ausgenommen sind die Südtirolerinnen aber nicht: Sollte sie reaktiviert werden, müssten auch sie den Dienst an der Waffe ableisten, wie dies schon Jahrzehnte lang der Fall war.
  • Medien, auch öffentlich-rechtliche, reproduzieren immer wieder entwürdigende und pauschalisierende Stereotype gegenüber Südtirol oder machen Stimmung gegen die Überwindung kolonialer Relikte. (01)
  • Auch wissenschaftliche Publikationen argumentieren mit der Notwendigkeit, Südtirol noch näher zu kontrollieren und keinesfalls aus der nationalen Bevormundung zu entlassen oder tragen zur Desinformation bei, um die Annexion reinzuwaschen.
  • Nicht zuletzt lassen sich auch private und öffentliche Organisationen von antiautonomistischen, kolonialen Reflexen leiten. (01 02 03 04 05)
  • Das italienische Schulsystem, teilweise sogar das italienischsprachige in Südtirol, vermittelt kaum Wissen über unser Land und dessen Geschichte, weshalb auch keine gesellschaftliche Aufarbeitung stattfinden kann. Dies führt nebenbei zu Unverständnis und zu einem ständigen Rechtfertigungsdruck.

All diese Einsichten sind mit der Zeit gereift. Noch vor einigen Jahren hätte ich es nicht gewagt, den Begriff »Kolonialismus« für die Beziehung zwischen Südtirol und Italien zu bemühen. Doch je mehr ich das Thema vertieft habe, desto mehr bin ich zum Schluss gekommen, dass er wohl zutrifft.


Mir wurde außerdem die Frage gestellt, wie es sich mit dem wirtschaftlichen Wohlstand verhält, der in Südtirol inzwischen größer sei als im restlichen Italien.5Es müssen aber auch die deutlich höheren Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden. Auch diesbezüglich ist zu sagen, dass zahlreiche Kolonialgebiete (z.B. Bermuda, Kaimaninseln oder bis 1997 Hong Kong) ein höheres Pro-Kopf-BIP aufweisen als die Kolonialmächte, denen sie unterworfen sind. Wohlstand ist per se weder ein hinreichender Indikator für das Vorhandensein oder die Abwesenheit einer kolonialen Beziehung noch ein Ersatz für Entkolonialisierung.

Siehe auch: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 || 01

  • 1
    Das Mussolini-Relief am Gerichtsplatz wurde in den 1950er Jahren fertiggestellt.
  • 2
    bis heute Vetta d’Italia
  • 3
    einschließlich jenen der größeren Städte
  • 4
    das Verfassungsgericht hat sich zum Beispiel sogenannte Querschnittkompetenzen ausgedacht
  • 5
    Es müssen aber auch die deutlich höheren Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden.


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