Als ich gestern auf eine Liste mit italienischen Parteien gestoßen war, die im EU-Wahlkampf gegen die militärische Unterstützung der Ukraine plädieren, wollte ich die Behauptung in Bezug auf Grüne und Linke selbst überprüfen. In einer deutschsprachigen Fassung konnte ich das Wahlprogramm jedoch — wie bereits erwähnt — nicht finden, genausowenig in irgendeiner anderen anerkannten Minderheitensprache.1Übrigens auch nicht auf Englisch, obwohl gerade bei EU-Wahlen auch Ausländerinnen wählen dürfen. Das ist auch deshalb interessant, weil im Programm selbst bereits im ersten Kapitel, das dem Frieden gewidmet ist, die Abkehr von »jeglichem postkolonialen Ansatz«2»ogni approccio di derivazione post-coloniale« gefordert wird. Das gilt offenbar nicht für binnenkolonialistische Ansätze.
Eine kurze Überprüfung hat ergeben, dass das Bündnis um Azione von Carlo Calenda, auf dessen Liste Paul Köllensperger (TK) den Einzug ins Europaparlament schaffen möchte, ebenfalls kein Programm auf Deutsch oder in einer anderen Minderheitensprache vorgelegt hat. Das erstaunt schon etwas weniger, wenn man weiß, was Calenda von Minderheitensprachen hält.
Und dennoch: Wenn Grüne und Team K eigenständig — also nicht auf irgendeiner staatsweiten Liste — kandidieren würden, fiele ihnen wohl nicht im Traum ein, ein einsprachiges Programm vorzulegen. Warum also halten sie es nicht für nötig, das Wahlprogramm der Bündnisse, für die sie jetzt antreten, übersetzen zu lassen?
Offenbar greift allein aufgrund des Zuschnitts des Wahlkreises auch bei diesen Südtiroler Parteien (die sich doch programmatisch vehement für die Mehrsprachigkeit einsetzen!) die nationalstaatliche Logik, wonach Minderheitensprachen entbehrlich sind. Da wird die »in Vielfalt geeinte« EU — von regionalen Südtiroler Parteien, die zu einem erheblichen Teil auf deutsch- und auch ladinischsprachige Wählerinnen hoffen — gleich nur noch mononational und einsprachig dekliniert.
Ein gutes Beispiel für Minorisierung und Marginalisierung: Wenn Grüne und Team K nicht nachbessern, wird auf einem Wahlzettel mit zwölf Symbolen am 8. und 9. Juni voraussichtlich nur ein einziges einer Partei entsprechen, die es für angemessen gehalten hat, ihr Programm auch auf Deutsch vorzulegen. Diese Partei wird die SVP sein — die jedoch nach meinem Dafürhalten gerade auch für die deutsch- und ladinischsprachigen Minderheiten schon deshalb unwählbar ist, weil sie ein Bündnis mit FI eingegangen ist.
All das ist ein Grund mehr für einen eigenen Südtiroler EU-Wahlkreis nach ostbelgischem Vorbild: Offenbar ist ein vom Nationalstaat losgelöster Denkrahmen sogar dafür nötig, dass »mehrsprachige« Südtiroler Parteien ihren potenziellen Wählerinnen ein vollständiges mehrsprachiges Angebot unterbreiten.
Doch auch inhaltlich wäre ein eigener Wahlkreis wichtig: Wenn sie nicht zu staatsweiten Bündnissen gezwungen wären, glaube ich kaum, dass
- Brigitte Foppa putinfreundliche und israelfeindliche Positionen
- Paul Köllensperger die Atomkraft und
- Herbert Dorfmann einen mutmaßlichen Putinisten
unterstützen würden. So aber müssen sich die Südtirolerinnen mit all dem gemein machen, wenn sie die Genannten wählen wollen.
Cëla enghe: 01
- 1Übrigens auch nicht auf Englisch, obwohl gerade bei EU-Wahlen auch Ausländerinnen wählen dürfen.
- 2»ogni approccio di derivazione post-coloniale«
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