Im dieswöchigen Leitartikel der Wochenzeitung ff mit dem Titel “Willkommen” beschäftigt sich Direktorin Verena Pliger mit der Frage, was Südtirol unternehmen müsste, um attraktiver für (ausländische) Fachkräfte zu sein. Pliger räumt zwar ein, dass es etwas mit vergleichsweise niedrigen Gehältern, gepaart mit knappem Wohnraum und hohen Lebenshaltungskosten zu tun haben könnte, aber das wahre Problem sei dann doch wohl die vermeintlich mangelnde Weltoffenheit der Südtirolerinnen, und irgendwie auch die fehlende Immersion an den Schulen, die gefühlt mittlerweile an so ziemlich allem Schuld ist – vom Klimawandel bis hin zum schlechten Abschneiden der Südtiroler Herren beim Super-G anlässlich der Skiweltmeisterschaften 2023 in Courchevel und Méribel.
Betriebe würden zwar Anstrengungen unternehmen, attraktive Angebote für (potenzielle) Mitarbeiterinnen zu schaffen, “doch was nutzt das alles, wenn wir in einem Land leben, das sich immer weiter verschließt, anstatt sich zu öffnen”, diagnostiziert Pliger ziemlich plakativ und vorurteilsbeladen. Mir ist schon klar, dass es in Südtirol mitunter zum guten Ton gehört, sich über die Engstirnigkeit, Rückständigkeit und Fremdenfeindlichkeit der Landsleute zu echauffieren – ganz nach Karl-Markus Gauß: “Provinz ist dort, wo Provinzler Provinzler Provinzler schimpfen.”
Aber stimmt denn der Befund? Ist es bei uns wirklich schlimmer als anderswo – zumal dort, wohin die Südtiroler Fachkräfte abwandern? Gibt es belastbare Indizien und Belege dafür oder reichen uns Bauchgefühl und anekdotische Evidenz?
Lustig ist, dass die Töne, die Pliger anschlägt, auch genau dort zu vernehmen sind, wo die meisten “Auslandssüdtirolerinnen” beschäftigt sind: in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland. Auch dort gibt es die Debatte zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch dort werden Stimmen laut, die nach mehr Offenheit gegenüber Fremdem und Neuem verlangen und die Landsleute als zu verschlossen brandmarken (vgl. 01
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), auch dort sind Xenophobie und andere Formen der Diskriminierung ein Thema. Und ich bin mir sicher, dass sich diese Debatten nicht nur auf die D-A-CH-Region beschränken. Wir finden sie überall. Was dann aber wiederum heißt, dass Südtirol in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellt und wohl ähnliche Entwicklungen durchlebt, wie die meisten anderen Regionen Europas.
Dazu gehört beispielsweise die Tendenz, dass rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien erstarken, was man freilich als Indiz für fehlende Weltoffenheit interpretieren könnte. Eine Analyse des EU Science Hub der Europäischen Kommission für die Europawahlen 2019 hat jedoch ergeben, dass Südtirol zu jenen Regionen in Europa zählt, in denen migrationsfeindliche Parteien am schlechtesten abgeschnitten haben. Die jüngsten Landtagswahlen haben allerdings sehr wohl einen Rechtsruck gebracht – im Vergleich zu 2018, nicht jedoch zu 2013 wohlgemerkt, als der Landtag noch weiter nach rechts lehnte als heute. Rechtsparteien (STF, FdI, JWA, F, Lega) kamen 2023 auf knapp über 30 Prozent der Stimmen. Jedoch lagen die Rechtspopulisten (SVP, Lega, MCR) auch in der Schweiz, die trotz wenig weltoffener Schritte wie dem Minarettverbot, der Ausschaffungsinitiative oder der Debatte um die Einführung einer Einwanderungsgebühr einer der größten Anziehungspunkte für ausländische Fachkräfte in Europa ist, bei den jüngsten Nationalratswahlen bei rund 30 Prozent. Und auch in Österreich liegt die FPÖ laut Umfragen bei 30 Prozent. Lediglich in Deutschland scheint das Wählerpotenzial für Rechtspopulisten deutlich geringer. Der AfD werden in der Sonntagsfrage derzeit rund 16 Prozent zugetraut.
In punkto Toleranz gegenüber Rechtsextremismus scheint Südtirol zumindest im italienischen Kontext mehr Sensibilität aufzubringen. Während ein Bademeister, der Tätowierungen mit Nazi-Symbolik während der Arbeit offen zur Schau getragen hat, in Brixen seine Arbeitsstelle verlor, ist er an der Adriaküste weiter als solcher im Einsatz.
Als weiteren Beleg für ihre These nennt Pliger die unsäglichen und hetzerischen Aussagen des Landtagsabgeordneten Wirth Anderlan.
Wenn wir immer weiter nach rechts abdriften und ein Jürgen Wirth Anderlan nach wie vor als Landtagsabgeordneter tätig sein darf, obwohl er zynisch hetzt und Leute in Steinbrüche schicken will.
– Verena Pliger
So skandalös Wirth Anderlans Verhalten auch ist, mich würde interessieren, in welchem Land er nicht mehr Abgeordneter sein dürfte (!). Gibt es irgendwo Regelungen, wonach Abgeordnete nach derartigen Aussagen ihr Mandat automatisch verlieren? Natürlich gibt es Länder mit “Rücktrittskultur”, wo der politische Druck in so einem Fall derart hoch werden würde, dass die betroffene Politikerin zurücktreten müsste. Aber in Südtirol ist doch Italien hat ein gewisser Silvio Berlusconi die Latte diesbezüglich verdammt niedrig gelegt. Selbst wenn die Justiz einschreitet – was sie wahrscheinlich nicht wird – müsste das nicht notwendigerweise bedeuten, dass JWA aus dem Landtag fliegt.
Als nächste müssen – wie bereits erwähnt – das Schulsystem und die Immersion herhalten.
Wenn sich eine unserer Regierungsparteien vehement gegen einen englischsprachigen Klassenzug am Realgymnasium – ein Pilotprojekt noch dazu! – wehrt. Wenn Unternehmerverbandspräsident Federico Giudiceandrea mit seiner Forderung einer internationalen Schule seit Jahren auf taube Ohren stößt. Wenn Roland Seppi, der Landeskommandant der Schützen, auf der 59. Bundesversammlung des Schützenbundes nichts als warnt, dass deutschsprachige Kinder zu „Reservespielern“ herangebildet werden, da die deutschen Schulen massiv von italienischsprachigen und ausländischen Kindern besucht werden.
– Verena Pliger
Im kommenden Schuljahr startet übrigens ein Klassenzug mit englischer Unterrichtssprache am Realgymnasium Bozen. Es steht bereits fest, dass die Anzahl jener Schülerinnen in diesem Klassenzug, die aus dem Ausland zugezogen sind, genau 0 sein wird. Generell sind die geforderten Initiativen (englischsprachige Klassenzüge, internationale Schulen) im Zusammenhang mit der Diskussion um “Weltoffenheit”, “Willkommenskultur” und “Integration” irgendwie paradox. Einerseits wird von den Südtirolerinnen gefordert, dass sie mehr Anstrengungen unternehmen sollen, zugezogene Fachkräfte zu integrieren und sich ihnen nicht zu verschließen, andererseits sollen elitäre Bildungsstätten für genau diese – offenbar integrationsunwillige – Zielgruppe geschaffen werden, damit sie möglichst nicht in Kontakt mit den Südtiroler Schülerinnen kommt. Wie dem auch sei, der Zusammenhang zwischen Immersionsunterricht, den es in der mehrsprachigen Schweiz auch nur sehr vereinzelt gibt, und der Attraktivität für Facharbeiterinnen erschließt sich mir nicht wirklich. Fest steht hingegen, dass die durchschnittliche verschlossene Südtirolerin mehr Sprachen spricht als die durchschnittliche weltoffene Europäerin.
Unsere Wirtschaft kann langfristig nur erfolgreich sein, wenn wir es als Gesellschaft insgesamt sind. Weltoffen, nach außen gewandt und zugleich inklusiv.
– Verena Pliger
Auch hier wieder: Wir sind zu unattraktiv, weil wir zu verschlossen, zu introvertiert, zu diskriminierend sind. Zu diesem – von manchen in Südtirol so liebgewonnenen – Hinterwäldler-Vorurteil gibt es eine interessante Studie des Community Media Research der Uni Padua. Dabei wurde abgefragt, wie die Menschen in Italien zu verschiedenen Verhaltensweisen stehen. Daraus wurden “Toleranzprofile” erstellt. Erhoben wurde unter anderem die Einstellung zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen und Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Untersuchung ergab zum Beispiel, dass in der Region Trentino-Südtirol 90,5 Prozent der Befragten nichts gegen gleichgeschlechtliche Sexualität einzuwenden hätten. Der italienische Durchschnitt lag nur bei 75,2 Prozent. Wenn man derartige Einstellungen als Indiz für Offenheit werten möchte, dann gehören die Menschen in unserer Region zumindest in Italien zu den tolerantesten. Laut Community Media Research waren 0 Prozent der Befragten in Trentino-Südtirol dem Profil der “Intoleranten” zuzuordnen. Italienweit waren es jedoch 9,6 Prozent. Immerhin hätten in Trentino-Südtirol 57,1 eine tolerante und 38,1 Prozent eine liberale Gesinnung in Bezug auf die abgefragten gesellschaftlichen Verhaltensweisen. In ganz Italien lagen diese Werte jeweils um rund 10 Prozentpunkte tiefer. Vorurteile sind aber auch verdammt praktisch, wenn Fakten wurscht sind.
“Weltoffenheit” ist schwer zu messen, aber die von mir aufgelisteten Indizien deuten nicht darauf hin, dass Südtirolerinnen in besonderem Maße fremdenfeindlich, verschlossen, intolerant und was weiß ich noch alles wären, wenngleich diese Attribute auch hierzulande ein Problem sind. Interessant wären vergleichende Studien zu rassistisch motivierten Gewalttaten oder auch zu Alltagsrassismus. Leider bin ich da nicht fündig geworden. Zur Abwechslung lass ich jetzt aber mal ein Bauchgefühl vom Stapel: Ich habe nicht den Eindruck, dass es in Südtirol mehr rassistische Gewalttaten gibt als anderswo. Sollte es tatsächlich belastbare Daten für Pligers These geben, die die von mir genannten widerlegen, bin ich über entsprechende Hinweise froh. Bislang komme ich jedenfalls, wenn schon nicht zum gegenteiligen Schluss, dann doch zum Befund, dass sich Südtirol in den von Pliger beanstandeten Einstellungen nicht maßgeblich abhebt und diese somit kaum der Grund für den Fachkräftemangel sein können.
Der Vergleich mit der Schweiz legt nahe, dass es doch eher am Geld liegt. Das jüngste AFI–Barometer bestätigt, dass für Südtiroler Arbeitnehmerinnen das Gehalt der wichtigste Aspekt ist und beispielsweise die Work-Life-Balance weit weniger Bedeutung hat. Es ist anzunehmen, dass dies im hiesigen Kontext für auswärtige Beschäftigte ebenso der Fall ist.
Ein zusätzlicher Aspekt ist, dass das “Niedriglohnland” Südtirol am Arbeitsmarkt mit Metropolregionen wie Wien, München, Mailand usw. konkurriert. Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Städte aufgrund der Akkumulation von Angeboten für gewisse Tätigkeiten (künstlerische bis wirtschaftliche) attraktiver sind. Ein Umstand, den man auch kaum beheben wird können und den man anderweitig kompensieren muss. Vielleicht indem wir weltoffener sind als sie?
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