Für kranke Senior:innen ist es fast unmöglich, außerhalb des Krankenhauses gediegen medizinisch versorgt zu werden
Es geht um meine Mutter. Sicher kein Einzelfall, sicher ein Fall wie viele andere auch. Ihr Leidensweg begann, als ihr Herz immer schwächer wurde und weitere Probleme verursachte. Mit weitreichenden Folgen.
Es war fast aussichtlos, einen Termin bei dem ihr zugewiesenen Hausarzt zu erhalten. Er war, wenn überhaupt, nur digital erreichbar, gewährte Termine erst nach mehreren Wochen. Eine effiziente Hilfe für eine betagte kranke Frau sieht anders aus. Abgesehen davon, dass der Arzt kein Wort deutsch sprach. Reden in der eigenen Sprache, sagte der Münchner Psychiater Tom Hegemann auf diesen Seiten, hilft in der ärztlichen Behandlung. Das wird in Südtirol als überflüssig, weil deutsch-nationalistisch, abgetan.
Wir suchten nach einer Alternative und fanden sie auch. Der Hausarzt, der auch als Zahnarzt tätig ist, fand trotz seiner Überbelastung Zeit, meine Mutter ohne großen Aufwand und ohne ständige Einwände mit den notwendigen Rezepten zu versorgen. Eine große Erleichterung, denn die Zettelwirtschaft ist erdrückend. Von wegen Bürokratie in der Landwirtschaft.
Abwesender Hausarzt
Doch der Reihe nach: Nach dem völligen Versagen ihres Hausarztes, wegen seiner fehlenden realen, analogen Anwesenheit, brachte mein Bruder unsere angeschlagene Mutter im Herbst ins Krankenhaus nach Bozen. Den Ärzt:innen gelang es, ihre Herzschwäche »abzuschwächen«. Andererseits war es unmöglich, ärztliche Auskunft über den Zustand der Mutter zu erhalten. Erst über den Umweg »Vitamin B« — eigentlich unerträglich — wurden wir über die mütterlichen Lebensperspektiven informiert. Ein Zustand zum Verzweifeln.
Das Krankenhaus überstellte unsere Mutter anschließend für eine weiterführende Therapie an die Privatklinik Bonvicini. Den Ärztinnen und Ärzten dort gelang eine Stabilisierung, die hoffen ließ. Mutter erholte sich überraschend gut, auch weil sie sich aufgehoben fühlte. Manchmal — sie beklagte sich nicht, bedauerte es aber — fand sie sich in der italienischen Welt der Bonvicini-Klinik nicht zurecht. Der Kunde, der Patient ist König? Das Versprechen der Autonomie auf sprachliche Normalität wird im Gesundheitswesen ständig gebrochen.
Erschreckend für mich auch, wie wenig zwischen dem Bozner Krankenhaus und der erwähnten Privatklinik zusammengearbeitet wurde. Es scheint zwischen den beiden Einrichtungen nicht direkt kommuniziert zu werden, wir Angehörigen der Patient:innen mussten vermitteln, die Krankenhausärzt:innen wussten nicht, was ihre Kolleg:innen der Patientin an neuen Medikamenten verschrieben. Fast schon fahrlässig. Ein No-Go.
Alleingelassen
Die Unzulänglichkeiten sind für die Angehörigen noch verkraftbar, wahrscheinlich aber weniger verkraftbar für Patient:innen. Schlimm wird es, wenn vermeintlich genesene Erkrankte nach Hause entlassen werden. Da ist »man« plötzlich auf sich allein gestellt. Da spürt »man« die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein.
Das Bad musste umgebaut, eine Pflegerin — eine Badantin — gesucht werden. Weil die Schwester eine Bedienstete des Bauernbundes ist, fand sie dort effiziente Hilfe beim eigenen Patronat, unbürokratisch schnell und zielführend. Ein Kompliment an den Bauernbund. Andere tun sich da schwer, deutlich schwerer. Es war ein Zickzack-Hürdenlauf, zeitaufwändig für uns Angehörige, aber besonders entwürdigend für die Betroffene, unsere Mutter.
Stichwort Invalidität, Pflegegeld, Pflegeeinstufung. Entwürdigend ist es, wenn Senior:innen vor die Invalidenkommission zitiert werden. Unsere Mutter musste vom Weißen Kreuz dorthin gebracht werden, äußerst gebrechlich, hilflos ausgeliefert. Und was machen alte Menschen vor der Kommissionsriege? Sie mimen Stärke, weil sie ihr Leben lang widerstehen mussten, allen möglichen Widrigkeiten. Auch hier wiederholte sich die einsprachige Arroganz italienischer Ärzte, die nicht einmal versuchten, wenigstens passiv zweisprachig zu sein.
Zweite Hürde Pflegeeinstufung. Diese beantragte meine Schwester im November 2023 beim zuständigen Amt. Im April 2024 hätte sie stattfinden sollen. Monate später. Ist das eine Strategie? Unsere Mutter verstarb in der Zwischenzeit. Warum findet diese Einstufung nicht gleichzeitig mit der Anhörung vor der Invalidenkommission statt? Bürokratieabbau?
Passend dazu ein kolportierter Sager des ehemaligen Generaldirektors des Sanitätsbetriebs, Thomas Schael. Er zweifelte die Sinnhaftigkeit an, kranke Seniorinnen und Senioren mit Prothesen zu versorgen. Weil sie eh sterben werden. Medizindarwinismus der übelsten Sorte.
Der unaufhaltsame Leidensweg
Als Mutter nach der zweimonatigen Betreuung im Krankenhaus und in der Bonvicini-Klinik nach Hause zurückkehrte, begann Stück für Stück ihr Leidensweg. Die Nachtstunden wurden für sie eine Qual: Wasser in der Lunge, Atemnot, die Angst, zu ersticken. Bruder und Badantin verzweifelten an der misslichen Lage der Mutter. Ihre Unruhe artete jede Nacht zu einer Art Amok-Aktion aus.
Die im Krankenhaus angekündigte Hilfe durch den Sprengel blieb ein nicht eingehaltenes Versprechen. Diese begleitende Hilfe gab es ganz einfach nicht. In der absoluten Not der Hilflosigkeit — Ohnmacht pur — griffen mein Bruder, meine Schwester und ich zu einer Notmaßnahme. Innerhalb einer Woche suchten wir gleich dreimal die Notaufnahme im Bozner Krankenhaus auf. Eine SOS-Mail an einen die Mutter betreuenden Arzt blieb unbeantwortet.
Wir verbrachten jeweils acht Stunden, meine Geschwister und ich. Eine Zumutung für unsere kranke Mutter. Sie wurde vom Team — ohne Zweifel: alle arbeiten in der Notaufnahme unter Druck effizient und viel — als ein »Nicht-Notfall« eingestuft. Wasser in der Lunge, Blut im Magen, kein Notfall? Zweimal wurde unsere Mutter mit einer Liste neuer Medikamente nach Hause verschickt. Wäre das nicht der Job des Sprengels vor Ort? Damit könnte die Notaufnahme entlastet werden. Beim dritten Anlauf erbarmte sich eine Ärztin und behielt die Herzkranke für einige Tage im Krankenhaus.
Die Rückkehr nach Hause war letztendlich ein Umweg in den Tod. Wir wurden zu ohnmächtigen Sekundanten des Sterbens unserer Mutter. Nach weiteren qualvollen Nächten, nicht verkraftbar das hilflose »Helfen«, ein weiterer Anlauf in die Notaufnahme, der letzte Gang. Es gab einige engagierte Pfleger:innen, einen interessierten Arzt, die die Mutter fachlich begleiteten, in den Tod. Er war schmerzfrei, unendlich traurig, weil endgültig.
Die »Pflege« zuhause ist eine Schimäre, ein Trugbild, ein Hirngespinst. Uns Familienangehörigen wurde ein Job übertragen, den wir nicht beherrschten. Nicht nur der Job wurde uns übertragen, auch die Verantwortung wurde auf uns abgewälzt. Die Verantwortung für das vorhersehbare Scheitern. Hat sich das unsere Mutter verdient? Wie bereits angedeutet, das war und ist nicht ein Einzelfall.
Eine positive Erwähnung darf nicht fehlen: Reibungslos erhielten wir vom Sanitätsbetrieb Krankenbett, Rollator und Rollstuhl. Erstaunlich unbürokratisch schnell, nachdem alle notwendigen Zettel vorlagen.
Für eine Lobby der Alten, Pflegebedürftigen, Sterbenden
Die oben beschriebene »Behandlung« hat sich unsere Mutter — das gilt für alle Mütter und Väter — nicht verdient. Die Loblieder auf die Alten, Senior:innen, die den Faschismus, wie auch den Nazismus und den Zweiten Weltkrieg durchgestanden und überlebt, danach Südtirol wieder aufgebaut haben, bleiben schal, unehrlich.
Auf der lit. Cologne hat es der französische Philosoph Didier Eribon unmissverständlich deutlich formuliert: Es braucht eine Lobby für die Alten, die Pflegebedürftigen, die Sterbenden.
Cëla enghe: 01
Scrì na resposta