Es ist schwierig bis unmöglich, über den Nahostkonflikt zu schreiben, ohne zynisch oder relativierend zu wirken und jeder einordnende Vergleich hat das Potenzial, als billiger Whataboutism abgetan zu werden. Der Konflikt ist aufgrund seiner Komplexität und der mitunter paradoxen Zusammenhänge kaum auf konventionellen – sprich diplomatischen oder kriegerischen – Wegen zu lösen, denn sonst wäre dies in den mehr als 75 Jahren, die der De-facto-Kriegszustand bereits andauert, wohl schon längst passiert. Evident ist, dass die Geschichte ein entscheidender Faktor für das Verständnis und die Einordnung des Konfliktes, nicht aber für dessen Lösung ist. Es ist wichtig, die historischen Hintergründe zu kennen, um Falschinformationen und Propaganda als solche entlarven zu können. Gleichzeitig werden historische Argumente – faktische wie auch frei erfundene –, wie sie von Vertretern beider Seiten ins Treffen geführt werden, aber nicht aus der Sackgasse führen. Biblisch begründete Ansprüche und andere geschichtliche Beweggründe führen ins Nichts. Viel zu verwoben sind mittlerweile die Stränge, als dass sie sich einfach aufdröseln ließen.
Dennoch erweckt die momentane Debatte um die neuerliche Eskalation des Konfliktes, dass es – je nach Blickweise – pauschal und objektiv eindeutig gut und böse, richtig und falsch, gerecht und unfair, rechtens und illegal gäbe und dass sich das jeweils Gute, Richtige, Gerechte und Rechte nur durchsetzen müsste. Mittels vielfach nur anekdotischer Evidenz werden einfache Antworten gegeben. Natürlich lassen sich vorher genannte Attribute an einzelne Ereignisse und Akteure heften – aber eben nicht auf „Israel“ oder „die Palästinenser“ als Ganzes. Der weltweite Trend, sich wie bei einem Fußballspiel blindlings entweder bedingungslos auf die Seite des Teams Palästina oder des Teams Israel zu stellen, ist schlichtweg pervers und zeugt von Ignoranz und auch Geringschätzung der Tragik. Daher möge man mir den Zynismus und die Relativierung verzeihen, die eventuell aus den folgenden Zeilen herauszulesen sind. Mein Ziel ist es, der Debatte an dieser Stelle die blindmachende Emotionalität zu nehmen, Propaganda außen vor zu lassen und einfach nur belegbare Fakten zu strapazieren, in der Hoffnung, dass dies dazu beiträgt, – zumindest im Kleinen – festgefahrene Positionen zu überdenken und Diskussionen zu versachlichen. Sollte ich etwas geschrieben haben, was nicht den Tatsachen entspricht, bin ich froh über Rückmeldungen in den Kommentaren oder über das Fehlerformular.
Wem gehört das Land? Wer war zuerst da?
Wie schon eingangs erwähnt, ist diese Frage eigentlich irrelevant, da mittlerweile Millionen von Juden und Muslimen (im Kern handelt es sich um einen Religionskonflikt – aber dazu später) in dem Gebiet leben und eine ethnische Säuberung niemals die Lösung des Konfliktes sein kann. Zudem gibt es weder in den palästinensischen Gebieten und noch viel weniger in Israel homogene Bevölkerungen, die sich so leicht einer Seite zuordnen ließen. Selbst innerhalb des betroffenen Gebiets gibt es also mehr als nur die zwei – von den meisten Menschen wahrgenommenen – Seiten („die Israelis“, „die Palästinenser“). Einmal ganz abgesehen von den globalen Playern im Hintergrund: USA & EU (mit historischer Verantwortung gegenüber und systemischem Interesse an Israel und gleichzeitig mit die größten Geldgeber der Palästinenser), Russland (als Anführerin einer autoritären weltweiten Allianz gegen den Westen), Türkei (NATO-Mitglied mit Sympathien für Hamas), arabische Staaten (Verbündete und Gegner des Westens/Israels und der Palästinenser zugleich), Iran (mittlerweile mit sunnitischen Palästinensern verbündete schiitische Großmacht).
Fest steht, dass es eine kontinuierliche rund 3.000-jährige jüdische Besiedelungsgeschichte in dem Gebiet gibt – mal als große Mehrheit, mal als kleine Minderheit. Die jüdische Besiedlung – geprägt von Herrschaft und Vertreibung – ist älter als die arabisch-muslimische, aus dem einfachen Grund, da das Judentum älter ist und es den Islam (wie auch das Christentum) ohne Judentum nicht gäbe. Al Aqsa und Felsendom sind sprichwörtlich auf den Mauern des jüdischen Tempels gebaut. Judäa, Samaria und Galiläa waren aber immer schon umkämpft. Bereits die Babylonier haben den ersten jüdischen Tempel zerstört. In der Folge kamen und gingen viele andere (hier werden nur die wichtigsten genannt): Nach den Babyloniern waren es die Römer – von denen übrigens auch der Name Palästina stammt – die im „Heiligen Land“ herrschten. Nach einem jüdischen Aufstand und der folgenden Vertreibung sollte auch die Gebietsbezeichnung nicht mehr an die Israeliten und das Land Kanaan erinnern. Im 7. Jahrhundert nach Christus begann die Futūh, die islamisch-arabische Eroberung weiter Teile des Orients, in Zuge derer auch Jerusalem eingenommen und beherrscht wurde – von den Umayyaden, Abbasiden, Seldschuken usw. Mit den Kreuzzügen und der Errichtung des Königreichs Jerusalem wurde die muslimische Vorherrschaft unterbrochen, ehe das Gebiet über viele Jahrhunderte zunächst von den Mamluken und dann von den Osmanen verwaltet wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg begann schließlich die britische Mandatszeit, die bis 1948 dauerte. Einen Staat Palästina gab es in dieser ganzen Zeit nie. Das Land war zudem sehr dünn besiedelt. Im Jahr 1870 lebten in Jerusalem 11.000 Juden und 7.000 Moslems. Zu Beginn der 1920er-Jahre waren von den rund 750.000 Einwohnern in der Region (heute sind es mehr als 14 Millionen) 78 Prozent muslimisch, 11 Prozent jüdisch und 10 Prozent christlich. Nicht-Muslime waren zu dieser Zeit starker Diskriminierung ausgesetzt. Mit dem Beginn der zionistischen Bewegung Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts und gestärkt durch die Balfour-Deklaration von 1917, in der die Briten sich einverstanden erklärten, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volkes zu errichten, kam es zu Einwanderungsbewegungen – in späterer Folge verstärkt durch den Holocaust –, die den jüdischen Bevölkerungsanteil bis 1945 auf 31 Prozent steigen ließen. Dabei wurde kein Land gestohlen oder besetzt; die jüdischen Einwanderer kauften vielmehr Ländereien von (meist arabischen) Großgrundbesitzern. Gleichzeitig kam es während des britischen Mandats aber auch zu einer starken Einwanderung arabischer Arbeitskräfte, die aus Syrien/Libanon, Ägypten und Transjordanien zuwanderten. Zusammen mit den bereits ansässigen muslimischen Arabern – die sich damals noch als solche bezeichneten – haben sich diese im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Art „Nation-Building“ zum Volk der Palästinenser geformt. Gleichzeitig entstand die Idee für einen eigenen Staat Palästina, der in der Zeit vor dem Sechstagekrieg, als Gaza, Ostjerusalem und Westjordanland von arabischen Ländern besetzt waren, kein Thema war. Ein großer Teil der heutigen Bevölkerung – sowohl auf arabischer, aber noch mehr auf jüdischer Seite – sind Nachkommen von Menschen, die das Gebiet erst im 20. Jahrhundert besiedelt haben, wobei die frühen Zionisten sogar vor den arabischen Arbeitsmigranten ins Land gekommen sind. Etwa die Hälfte der Bevölkerung Gazas stammt von – vornehmlich ägyptischen – Einwanderern ab, die während der britischen Kolonialzeit nach Gaza kamen.
Wer hat angefangen?
Der massive Zuzug von jüdischen Siedlern bereits während der britischen Mandatszeit führte zu Spannungen mit der ansässigen, großteils arabisch-muslimischen Bevölkerung und auch zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen, die im Großen arabischen Aufstand von Palästina (1936-1939) gipfelten. Angeführt von Mohammed Amin al-Husseini, arabischer Nationalist, Antizionist, fanatischer Antisemit (wenngleich auch Araber ein semitisches Volk sind) und Mufti von Jerusalem, lehnten sich die einfachen – meist bäuerlichen – arabischen Bewohner gewaltsam gegen die britische Kolonialmacht, die Zionisten, aber auch die eigene arabische Elite auf. Die eigentlich Araber-freundlichen Briten, die den Zuzug der Zionisten zunächst begrenzten, waren in einer Zwickmühle, denn al-Husseini und die Palästinenser suchten in der Folge die Nähe zu Adolf Hitler, mit dem sie der Hass auf Engländer und Juden verband und von dem sie sich die „Endlösung der Judenfrage“ erhofften. Bis zum Kriegsende waren al-Husseini und seine Anhänger in Palästina Kollaborateure des NS-Regimes und halfen auch noch danach deutschen Nationalsozialisten, in arabischen Gebieten unterzutauchen. Mit dem bevorstehenden Ende des britischen Mandats und der Verabschiedung des UN-Teilungsplanes für Palästina am 29. November 1947 durch die UN-Generalversammlung artete der Konflikt zwischen Zionisten und arabischer Bevölkerung in einen Bürgerkrieg („Palästinakrieg“) aus. Der Teilungsplan, der vorsah, dass der jüdische Staat 56,47 Prozent des britischen Mandatsgebietes westlich des Jordans erhält (auf dem restlichen, wesentlich größeren Mandatsgebiet entstand der arabische Staat Jordanien), wobei zwei Drittel dieser Fläche die unfruchtbare Wüste Negev ausmachte, und Jerusalem unter internationale Verwaltung gestellt werden würde, orientierte sich zwar an den Siedlungsgebieten der Juden und Araber, hätte aber keine „ethnisch reinen“ Staaten geschaffen. Der Plan wurde in dem betroffenen Gebiet unterschiedlich aufgenommen. Während die jüdischen Interessensgruppen (z. B. Jewish Agency) mit der Teilung einverstanden waren, lehnten die Araber (alle sechs arabischen Mitgliedsstaaten der UNO: Ägypten, Irak, Jemen, Libanon, Saudi-Arabien und Syrien) ihn zusammen mit Afghanistan, Griechenland, Indien, Iran, Kuba, Pakistan und der Türkei ab.
Im währenddessen immer intensiver geführten Bürgerkrieg kam es zu Gräueltaten auf beiden Seiten. Nachdem die Araber Jerusalem und die Versorgung der dort lebenden Juden blockierten, griffen jüdische Verbände das strategisch wichtige Dorf Deir Yasin an und verübten dort ein Massaker mit 100 bis 110 Toten. Aus Rache griffen arabische Freischärler in der Folge am Skopus-Berg einen Sanitätskonvoi an und töteten 70 Juden.
Als am 14. Mai 1948 das Völkerbundmandat für Palästina endete, rief Israel unter Ben Gurion seine Unabhängigkeit aus. Die beiden Supermächte USA und Sowjetunion erkannten den Staat sofort, respektive innerhalb weniger Tage an. Der Tag der Staatsgründung Israels symbolisiert für die arabische Bevölkerung wiederum die Nakba („Katastrophe“).
Am 15. Mai 1948 kurz nach 0 Uhr greifen Ägypten (später unterstützt von Saudi-Arabien), Syrien, Libanon, (Trans-)Jordanien und der Irak den gerade gegründeten Staat Israel an. Israel kann die Angreifer zurückschlagen, seinerseits Gebiete erobern und gewinnt den Krieg. Nach dem Waffenstillstand (außer mit dem Irak) 1949 zeigt sich folgende Situation: Die Küste, Galiläa und Negev fallen an Israel, Judäa und Samaria (Westjordanland) werden von Jordanien, der Gazastreifen von Ägypten besetzt. Jerusalem ist geteilt: Der Osten wird von Jordanien, der Westen von Israel kontrolliert.
1956 sperrt Ägypten den Suezkanal für israelische Schiffe und es werden Anschläge in Israel verübt. Daraufhin kommt es zur Invasion Israels in den Gazastreifen und auf die Sinai-Halbinsel. Gleichzeitig besetzen Frankreich und Großbritannien den zuvor von Ägypten verstaatlichten Suezkanal. USA, Sowjetunion und UNO zwingen Frankreich, Großbritannien und Israel jedoch zum Abzug.
1967 blockiert Ägypten die Meerenge von Tiran und verlagert Truppen auf die Sinai-Halbinsel. Syrien, Jordanien, der Irak und Saudi-Arabien verlagern ebenfalls Truppen an die israelische Grenze. Israel kommt einem Angriff der arabischen Mächte zuvor und startet am 5. Juni 1967 seinerseits einen Überraschungsangriff der israelischen Luftwaffe auf ägyptische Flughäfen und die syrische Luftwaffe. In nur sechs Tagen besetzt Israel das Westjordanland, Ost-Jerusalem (Jordanien), die Golanhöhen (Syrien) sowie den Gazastreifen und die Halbinsel Sinai (Ägypten) und rückt auf Damaskus vor. USA und Sowjetunion erreichen in der Folge einen Waffenstillstand. Israels Gebiet hat sich indes durch die Eroberungen vervielfacht. In der Folge (November 1967) verabschiedet die UNO Resolution Nr. 242, die besagt, dass sich Israel auf die Grenzen von 1948 zurückzieht, im Gegenzug von den arabischen Staaten anerkannt und Frieden geschlossen wird. Israel stimmt dem zu. Die Araber lehnen auf Basis der Khartum-Resolution der Arabischen Liga (Three-Noes-Gipfel: NO peace with Israel, NO recognition of Israel, NO negotiations with Israel) ab. Nachdem Israels Land-gegen-Frieden-Angebote nicht angenommen wurden, begann das Land nach dem Sechstagekrieg mit dem Bau von – laut UN und Internationalem Gerichtshof (IGH) – völkerrechtlich illegalen Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Am 6. Oktober 1973, dem Versöhnungstag „Jom Kippur“ (höchster Feiertag des jüdischen Jahres) starten Ägypten und Syrien einen Überraschungsangriff auf Israel. Dieser ist zunächst erfolgreich, doch mithilfe von Nachschublieferungen aus den USA gelingt es Israel, die Angreifer zurückzuschlagen. Drei Wochen nach Kriegsbeginn steht die israelische Armee 100 Kilometer vor Kairo und 65 Kilometer vor Damaskus. Mit der UN-Resolution 338 wird ein Waffenstillstand erreicht.
Das Camp-David-Abkommen bringt 1979 einen Friedensschluss zwischen Ägypten und Israel, der vorsieht, dass sich Israel von der Sinai-Halbinsel zurückzieht.
Am 3. Juni 1982 wird der israelische Botschafter in London ermordet und es häufen sich Feuerüberfälle der 1964 gegründeten terroristischen Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO auf israelische Siedlungen im Norden. Israel reagiert mit Luftangriffen auf PLO-Stellungen im Libanon und in Syrien. USA und Sowjetunion erreichen einmal mehr einen Waffenstillstand mit Syrien und 1983 kommt es zum Friedensvertrag zwischen Israel und Libanon.
Da die arabischen Nachbarstaaten nach den ständigen Misserfolgen, die die Situation der Palästinenser zunehmend verschlechterten, ihre Aggressionen gegenüber Israel einstellen und teilweise sogar Frieden schließen (Jordanien folgte 1994 auf Ägypten), verlagert sich der gewaltsame Aufstand der Palästinenser nach innen. 1987 wird die Erste Intifada (arabisch für „Abschüttlung“) ausgerufen und der „Krieg der Steine“ gegen die Besatzung begonnen.
Auf Basis des so genannten Oslo-Abkommens unterzeichnen 1993 in Washington die Außenminister Mahmud Abbas, Schimon Peres, Warren Christopher und Andrei Kosyrew in Anwesenheit von Jitzchak Rabin, Jassir Arafat und Bill Clinton die „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“. Die Fatah (mächtigste Fraktion der PLO) erkennt das Existenzrecht Israels an. Jassir Arafat (ehemaliger Terroristenführer der PLO), Schimon Peres (israelischer Außenminister) und Jitzchak Rabin (israelischer Ministerpräsident und 1995 von einem religiös-fundamentalistischen israelischen Studenten ermordet) erhalten 1994 dafür den Friedensnobelpreis. 1995 folgt das Oslo-II-Abkommen, das die Errichtung einer palästinensischen politischen Struktur zur Folge hat.
Der von US-Präsident Bill Clinton vermittelte Camp-David-Gipfel (und das daraus resultierende Camp-David-II-Abkommen) im Juni 2000 zwischen dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, und dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak, scheitert aufgrund offener Fragen, die noch heute mit die größten Hinderungsgründe für den Frieden sind:
- der künftige Status (Ost-)Jerusalems
- das Schicksal der jüdischen Siedlungen im Westjordanland
- das Rückkehrrecht der Palästinaflüchtlinge
- die Verteilung und Nutzung der knappen Wasservorräte an Jordan und Jarmuk
- die genaue Grenzziehung zwischen Israel und dem palästinensischen Territorium
Der Besuch des damaligen rechten Oppositionsführers und Hardliners Ariel Scharon auf dem Tempelberg führte kurz darauf im September 2000 zur Ausrufung der Zweiten Intifada, im Zuge derer 143 Selbstmordanschläge in Israel durchgeführt wurden, bei denen 513 Israelis getötet wurden. Als Reaktion darauf begann Israel mit der Errichtung eines Sperrwalls/Grenzzauns zu den Palästinensergebieten.
Nachdem der israelische Minister Rechawam Ze’evi am 17. Oktober 2001 durch die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ ermordet wurde, begann Israel unter dem neuen Likud-Premierminister Ariel Scharon, gezielt palästinensische Anführer zu töten. Angesichts der Eskalation fordern die USA, die EU, die UNO und Russland in der Erklärung von Madrid (April 2002) Israels Rückzug aus den Palästinensergebieten und die Einstellung des Terrors durch die Palästinenser. Die in diesem Zusammenhang von US-Präsident George W. Bush propagierte „Road Map to Peace“ sieht einen israelischen Siedlungsstopp, eine Abkehr vom Terrorismus sowie eine Demokratisierung in Palästina und eine Zweistaatenlösung vor. Trotz der Zustimmung zur Roadmap durch die israelische Regierung und zunächst positiver Signale der palästinensischen Autonomiebehörde führen die israelischen Streitkräfte die gezielten Tötungen sowie den Siedlungsbau und die Palästinenser die Intifada bis 2005 fort und der Friedensprozess versandet, weil die erstarkte Hamas das Existenzrecht Israels nicht anerkennen will und in Israel ab 2009 eine Rechtsregierung unter Benjamin Netanjahu den so genannten Konvergenzplan der Vorgängerregierung von Ehud Olmert nicht weiter verfolgt.
Detail am Rande: Als die IDF (Israel Defense Forces) am 22. März 2004 den Gründer der Hamas, Scheich Ahmed Jassin, im Gazastreifen mit einer Rakete umbringt, befinde ich mich in Israel am Mt. Hermon in den besetzten bzw. annektierten Golanhöhen jeweils ein paar hundert Meter von der libanesischen und syrischen Grenze bzw. Waffenstillstandslinie entfernt. In Folge der israelischen Militäraktion beginnt die Hisbollah vom benachbarten libanesischen Berggipfel aus den Norden Israels zu beschießen. Israel reagiert mit dem Beschuss von Stellungen der Hisbollah. Nachdem ich vier Stunden lang zwischen den Fronten mit meinem Snowboard unterwegs war, während Hisbollah-Raketen sowie israelische Hubschrauber und Kampfflugzeuge über unsere Köpfe hinweg flogen, war der Spuk am Abend so schnell wieder vorbei, wie er begonnen hatte.
Wenig später töten die Israelis auch Jassins Nachfolger Abdel Asis Rantisi. Und noch ein paar Monate später im November 2004 stirbt Jassir Arafat unter nicht völlig geklärten Umständen in einem Krankenhaus in der Nähe von Paris. Im Februar 2005 gelang es jedoch ein israelisch-palästinensisches Gipfeltreffen im ägyptischen Badeort Scharm-el-Scheich zu organisieren, bei dem Ministerpräsident Ariel Scharon und der palästinensische Präsident Mahmud Abbas eine Waffenruhe verkündeten. Am 12. September 2005 beendet Israel nach 38 Jahren die Besetzung des Gaza-Streifens und räumt (teilweise gewaltsam mithilfe der Armee) alle 21 völkerrechtlich als illegal eingestuften jüdischen Siedlungen in Gaza. Seither lebt kein einziger Jude mehr in Gaza, nachdem das Gebiet fast ununterbrochen 2.000 Jahre lang von einer kleinen jüdischen Gemeinde bewohnt worden war.
Im Juni 2006 kommt es zum zweiten Libanonkrieg. Israel bombardiert Hisbollah-Stellungen und Gaza, nachdem israelische Soldaten entführt und ermordet wurden. Bereits im August kommt es zum Waffenstillstand.
Nach dem israelischen Abzug aus Gaza beginnt ein inner-palästinensischer Machtkampf. Die radikal-islamistische Hamas und die „weltliche“ Fatah ringen um die Vorherrschaft. Abbas (Fatah) gewinnt 2005 die Präsidentschaftswahl, während die Hamas 2006 die – bislang letzte – Parlamentswahl für sich entscheidet. Der Konflikt artet 2006 zum Bürgerkrieg aus, der 350 bis 600 Menschen das Leben kostet und de facto bis heute andauert. Die auf dem Papier bestehende palästinensische Einheitsregierung gibt es nicht. Die Hamas dominiert den Gazastreifen, die Fatah das Westjordanland.
Nach der Machtübernahme der Hamas werden vor allem ab 2008 immer wieder Raketen auf Israel gefeuert. Israel riegelt daraufhin das Gebiet quasi von der Außenwelt ab, wenngleich Gaza auch noch eine Grenze zu Ägypten hat. Es kommt zu Versorgungsengpässen.
Auf diplomatischer Ebene verbuchen die Palästinenser hingegen einen Erfolg. Gegen den Widerstand der USA und Israels hat die UN-Vollversammlung am 29. November 2012 einen Palästinenser-Staat faktisch anerkannt. Sie stimmte in New York für eine Aufwertung Palästinas zum Beobachterstaat („Non-member-state“).
Vor Ort eskaliert die Situation zwischen Israel und Palästina jedoch neuerlich. Nach der Entführung und Ermordung dreier israelischer Jugendlicher und anhaltendem Raketenbeschuss aus Gaza greift die israelische Luftwaffe ab 29. Juni 2014 Stellungen der Hamas im Gazastreifen an. Die Hamas reagiert ihrerseits mit einer Welle von Terroranschlägen in Israel. In der Folge schwelt der Gaza-Konflikt mehrere Jahre dahin. Die Hamas feuert immer wieder Raketen auf Israel. Die IDF reagieren mit Vergeltungsschlägen.
Der vorläufige Höhepunkt dieser schleichenden Eskalation ist der nunmehrige Gaza-Krieg. Am 7. Oktober 2023 drangen mehr als 1.500 Hamas-Terroristen nach Israel ein und töteten bis zu 1.200 meist israelische Zivilisten, aber auch muslimische Araber und Drittstaatangehörige. Über 200 Menschen werden als Geiseln genommen und nach Gaza entführt. Israel reagiert auf den größten Terroranschlag seiner Geschichte und den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust mit massiven Luftangriffen auf und in der Folge einer Bodenoffensive in Gaza. Die Hisbollah im Libanon beginnt ebenfalls mit Raketenbeschuss auf Israel, während der Iran als Drahtzieher vermutet wird. Auch im Westjordanland kommt es zu Kämpfen zwischen jüdischen Siedlern bzw. der israelischen Armee und Palästinensern.
Was hat es mit den palästinensischen Flüchtlingen auf sich?
Im Zuge des Palästinakriegs (1947–1949) wurden rund 750.000 Palästinenser zu Flüchtlingen. Sie verließen ihr Land, weil sie entweder von den Israelis vertrieben wurden, sich vor den Kämpfen in Sicherheit bringen wollten oder weil sie den Ankündigungen der angreifenden arabischen Armeen Glauben schenkten, dass sie bei einem Sieg nach Ende des Krieges wieder zurückkehren könnten. Bekanntlich hat Israel den Unabhängigkeitskrieg gewonnen und so formten sich im Laufe der Zeit 59 offizielle „Flüchtlingslager“ im Gaza-Streifen (8 – damals von Ägypten besetzt), im Westjordanland (19 – damals von Jordanien besetzt), im Libanon (12), in Syrien (9) und in Jordanien (10). Der Begriff „Flüchtlingslager“ ist dabei etwas irreführend, da es sich bei diesen Lagern meist nicht um provisorische Einrichtungen aus Zelten (wie man sie beispielsweise von den syrischen Flüchtlingen in der Türkei oder vielen Gegenden Afrikas kennt), sondern um normale urbane Siedlungen handelt, die nicht von anderen Stadtteilen zu unterscheiden sind.
Bereits 1949 startete die UNO ein spezielles, temporäres Hilfsprogramm namens UNWRA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East), das sich um diese Flüchtlinge kümmert. Nach der Gründung des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) als Refugee-Agency im Jahr 1950 wurde die Betreuung der palästinensischen Flüchtlinge nicht in das Hochkommissariat eingegliedert, sondern als temporäres, alle drei Jahre verlängertes Hilfsprogramm über mittlerweile mehr als sieben Jahrzehnte fortgeführt. Inzwischen ist die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge auf über 5 Millionen angewachsen, da der Flüchtlingsstatus weitervererbt wird und ein Großteil der heutigen “Flüchtlinge” in diesen Städten geboren wurde. Mit Ausnahme Jordaniens, das den palästinensischen Flüchtlingen Bürgerrechte zugestand – vor allem deshalb, weil die Jordanier die heutigen Palästinenser als Jordanier betrachten, schließlich entstand die Zweiteilung dieses Volkes ja nur durch die britische Grenzziehung -, wurden und werden die Palästinenser in den arabischen Ländern als Bürger zweiter Klasse behandelt und waren und sind Diskriminierung und Repressalien ausgesetzt. Unter Duldung der israelischen Armee kam es beispielsweise während des Libanonkrieges 1982 in den Lagern Sabra und Schatila zu einem Massaker durch christlich-libanesische Milizionäre, die bis zu 3.000 palästinensische Zivilisten ermordeten. Und auch der syrische Diktator Baschar al-Assad ließ im Zuge des Bürgerkrieges 2012 das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk (ca. 150.000 Bewohner) bombardieren und in der Folge abschotten, sodass im Folgejahr sogar Menschen verhungerten. 2015 wurde das Lager vom IS gestürmt, mittlerweile ist es wieder unter der Kontrolle der syrischen Regierung.
Das einzige andere Land im Nahen Osten neben Jordanien, das den palästinensischen Flüchtlingen juristische und politische Bürgerrechte gewährt, ist übrigens Israel.
Womit wir bei einem Aspekt wären, der in der Diskussion um die Flüchtlinge und um ignorierte UN-Resolutionen meist nicht zur Sprache kommt.
Im Zuge des Palästinakrieges und des Angriffs der arabischen Armeen auf Israel 1948 wurden nicht nur 750.000 Palästinenser zu Flüchtlingen, sondern es wurden auch rund 800.000 Juden aus den angreifenden arabischen Ländern vertrieben. Die Nachfahren dieser Vertriebenen machen rund die Hälfte der heutigen jüdischen Bewohner Israels aus. Die klassischen Zionisten sind eine Minderheit in Israel. Die meisten Bewohner sind Nachfahren von Flüchtlingen, die entweder aus den arabischen Ländern vertrieben wurden oder dem Holocaust zu entkommen versuchten. Ein großer Teil der Israelis sind also arabische Juden. Überspitzt formuliert könnte man sagen, sie sind genauso arabisch wie die Palästinenser, was wiederum die These stärkt, dass es sich um einen antisemitisch befeuerten Religionskonflikt handelt.
Jedenfalls wurde kurz vor Ende des Palästinakrieges die Resolution 194 von der UN-Generalversammlung verabschiedet. In dieser Resolution heißt es in unter Punkt 11:
[Die Generalversammlung, nach weiterer Erörterung der Lage in Palästina] beschließt, dass denjenigen Flüchtlingen, die zu ihren Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestattet werden soll und dass für das Eigentum derjenigen, die sich entscheiden, nicht zurückzukehren, sowie für den Verlust oder die Beschädigung von Eigentum, auf der Grundlage internationalen Rechts oder nach Billigkeit von den verantwortlichen Regierungen und Behörden Entschädigung gezahlt werden soll; beauftragt die Schlichtungskommission, die Repatriierung, Umsiedlung/Wiederansiedlung (resettlement) und ökonomische sowie soziale Rehabilitation der Flüchtlinge und die Zahlung von Entschädigung zu ermöglichen […].
Die arabischen Staaten Ägypten, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Syrien und Jemen lehnten die Resolution ab. Israel erkannte sie an, weil sie als Aufnahmebedingung des Landes in die Vereinten Nationen gestellt wurde. Die Ablehnung der arabischen Staaten rührt daher, dass die Annahme der Resolution einer Anerkennung Israels gleichgekommen wäre und die jüdischen Vertriebenen sich auch auf den Passus hätten berufen können. Man wollte zwar, dass die 750.000 Palästinenser in ihr Land zurückkehren können, den jüdischen Bürgern wollte man dies aber nicht zugestehen. Israel wiederum argumentierte, dass die Resolution nicht greife, solange die Araber nicht „in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen“ – sprich Israel anerkennen – und das Rückkehrrecht eben auch für jüdische Flüchtlinge gelten müsse. Wobei dieses Rückkehrrecht nach so vielen Jahren und mittlerweile Generationen schlichtweg nicht mehr umsetzbar ist. Ähnlich wie es undenkbar ist, dass alle Nachkommen jener Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs flüchten mussten, in das Land ihrer Vorfahren zurückkehren.
Warum ist der Nahostkonflikt eigentlich ein kleiner Konflikt und welche Rolle spielen die Medien dabei?
Ich habe eingangs geschrieben, dass manche meiner Feststellungen als zynisch oder relativierend interpretiert werden könnten. Dennoch ist es mir wichtig, Relationen aufzuzeigen, die bisweilen im Gegensatz zur Wahrnehmung Vieler stehen. Das schmälert oder verneint in keiner Weise das individuelle Leid und die Gräueltaten, die es in diesem Konflikt zweifelsfrei gibt. Krieg – egal wie groß – verursacht Leid. Und es gab in der Menschheitsgeschichte wohl auch noch keinen Krieg, in dem nicht auch Kriegsverbrechen begangen wurden. Davon ist auch die IDF nicht ausgenommen und israelische Soldaten haben mit Sicherheit in den vergangenen sieben Jahrzehnten Kriegsverbrechen begangen. Und bei terroristischen Guerillagruppen wie der Hamas sind Grenzüberschreitungen sogar Strategie.
Der Krieg in Nahost ist ein großer und zugleich kleiner, ein vergessener und zugleich weltbewegender Konflikt. Zu dieser Diagnose könnte man gelangen, wenn man sich gerade einmal fünf Minuten auf diversen Social-Media-Plattformen bzw. Nachrichtenkanälen bewegt. Israelis und deren Sympathisanten sowie Palästinenser und deren Unterstützer beschuldigen die internationalen (westlichen) Medien meist gleichzeitig und wechselseitig der vorurteilsbehafteten und einseitigen Berichterstattung zugunsten der Gegenseite. Und vor allem von palästinensischer Seite wird immer wieder betont, dass ihr Leid und Schicksal weltweit ignoriert werde.
Zunächst muss einmal festgestellt werden – ohne das unermessliche Leid, das es auch in diesem Konflikt gibt, schmälern zu wollen – dass der Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina ein vergleichsweise kleiner Konflikt ist, was seine geografische Ausdehnung, die Zahl der betroffenen Menschen sowie die Todesopfer betrifft. Ganz Israel beansprucht 0,4 Prozent der Gesamtfläche des arabischen Siedlungsgebiets und der Gaza-Streifen ist mit 365 km² nur geringfügig größer als die flächenmäßig größte Gemeinde Südtirols, Sarntal. Genaue und gesicherte Opferzahlen sind nur schwer feststellbar, aber nach gängigen Schätzungen liegt die Zahl der Todesopfer in den 75 Jahren seit dem Unabhängigkeitskrieg bis zum 7. Oktober 2023 insgesamt bei rund 100.000 (85.000 auf arabisch/palästinensischer Seite und 15.000 auf israelischer Seite). Bei innerpalästinensischen Konflikten kamen rund 2.000 Menschen zu Tode. Der gegenwärtige Gaza-Krieg forderte nach Angaben der Hamas bislang rund 30.000 Tote. Der Anschlag der Hamas wiederum kostete über 1.100 Israelis und Drittstaatangehörigen das Leben.
Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum kamen bei innerarabischen bzw. innermuslimischen Konflikten in der Region weit über 3 Millionen Menschen um. Allein die acht Jahre Krieg zwischen Iran und Irak forderten bis zu einer Million Opfer. Nach 10 Jahren Bürgerkrieg in Syrien waren über eine halbe Million Tote zu beklagen. Die als Völkermord angelegte Anfal-Operation des Baath-Regimes unter Saddam Hussein gegen Kurden, Assyrer, und Chaldäer forderte 180.000 Tote in nur drei Jahren. 300.000 waren es in Darfur, über 300.000 in nur 10 Jahren auch in Jemen. Im Umfeld des mexikanischen Drogenkrieges starben in den vergangenen 20 Jahren rund 300.000 Menschen. In zwei Jahren Ukraine-Krieg sind wahrscheinlich ebenfalls 300.000 Menschen getötet worden. Der somalische Bürgerkrieg forderte in den letzten drei Jahrzehnten 400.000 Tote. Und bei den Bürgerkriegen in Kongo und Sudan gehen die Zahlen in die Millionen.
Im Verhältnis dazu nimmt der Nahostkonflikt sowohl in der medialen Berichterstattung als auch bezüglich der Anzahl der Protestkundgebungen und Solidaritätsbekundungen und in Bezug auf die internationalen diplomatischen Bemühungen überproportional viel Raum ein. Weder bei den Massakern des IS, noch bei den Verbrechen des syrischen Regimes oder dem Abschlachten in Darfur bzw. Jemen gab es in arabischen oder westlichen Städten lautstarke Proteste und Kundgebungen mit tausenden Menschen, medienwirksame Aktionen bei diversen Veranstaltungen und endlose Social-Media-Diskussionen. Überspitzt könnte man sagen, dass das Sterben im Nahen Osten nur dann interessiert, wenn Juden – im verhältnismäßig kleineren Ausmaß wohlgemerkt – dafür verantwortlich sind. Das wiederum legt neuerlich den Schluss nahe, dass es sich um einen durch Antisemitismus befeuerten Religionskonflikt handelt und um ganz viel Heuchelei.
Bezeichnend für die verzerrte Wahrnehmung waren für mich zwei Episoden Ende Oktober 2023:
Die eine hat sich am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen zugetragen. Eine aufgebrachte junge palästinensische Frau konfrontierte dort die CNN-Reporterin Clarissa Ward mit massiven Vorwürfen, wonach die westlichen Medien das Narrativ zum Konflikt dominierten und in dem die palästinensische Seite nicht vorkäme.
„Where are our voices? Our voices need to be heard as well. We’ve been watching your channel and instead of mourning our dead, instead of mourning these Palestinian children, we’ve been having to deal with more dehumanization of Arabs.”
Das Video vom Wutausbruch der Frau ging viral. Also ging ich auf die Startseite von CNN um genau in diesem Moment die Vorwürfe einem Faktencheck zu unterziehen.
Die weltweite Aufmachergeschichte war über das größte Krankenhaus Gazas, das nach den Angriffen Israels vom Versorgungskollaps bedroht war. Eine weitere Geschichte, die die Verurteilung der israelischen Angriffe durch arabische Führer behandelt. Noch eine Geschichte über andere palästinensische Krankenhäuser im Versorgungsnotstand. Dann eine über das Westjordanland und dass Palästinenser dort keine Zukunft hätten. Und zu guter Letzt ein Bericht über Pro-Palästina-Demos in westlichen Städten. Zwei Geschichten handelten von Schicksalen auf israelischer Seite.
Bei anderen westlichen Media-Outlets zeigte sich ein ähnliches Bild. Alle (!) brachten Geschichten aus palästinensischer Perspektive und die meisten hatten eine solche als Aufmacher (gecheckt habe ich The Guardian, The Wall Street Journal, The New York Times, BBC News, AP, The Washington Post, Reuters, Time, Corriere della Sera, La Repubblica, RAI News, Die Süddeutsche und FAZ)
Die zweite bezeichnende Episode war die Explosion beim al-Ahli-al-Arabi-Krankenhaus am Abend des 17. Oktober. Westliche Medien haben sofort und ungeprüft die Angaben der Terrororganisation Hamas übernommen und von 500 Toten durch einen israelischen Bombenangriff auf das Krankenhaus gesprochen. Dabei wurde – wie sich tags darauf herausstellte – das Krankenhaus gar nicht getroffen, sondern es gab eine Explosion am Parkplatz davor. Die Zahl der Toten (welche die Hamas trotz Dunkelheit und Chaos nach der Explosion innerhalb kürzester Zeit mit 500 bezifferte) war angesichts des Einschlagsortes und der vergleichsweise geringen Schäden nicht glaubwürdig. Und sogar die Urheberschaft der Explosion ist zweifelhaft, da der für eine Fliegerbombe typische Krater fehlte und es laut mehreren Untersuchungen (z. B. Human Rights Watch) durchaus auch eine fehlgeleitete Rakete aus dem Gaza-Streifen selbst hätte gewesen sein können. Die Berichte wiederum lösten heftige, teils gewalttätige weltweite Proteste aus. Wohlgemerkt aufgrund eines Umstandes, der nicht geklärt ist und der wahrscheinlich friendly fire war.
In Summe betrachtet ist die Berichterstattung zum Nahostkonflikt in westlichen Medien trotz obiger Geschichte nach meinem Dafürhalten aber um Ausgewogenheit bemüht. Es werden unterschiedliche Blickwinkel dargelegt, wenngleich die diversen Outlets natürlich aufgrund ihrer Blattlinie und ihres ideologischen Backgrounds leichte Schlagseite in die eine oder andere Richtung haben können.
Auch die finanzielle Ausstattung des Konflikts ist überproportional. Die USA schicken jährlich rund 3,3 Milliarden Dollar an militärischen Hilfen nach Israel. Wieviel Geld Länder wie Katar oder der Iran nach Palästina überweisen, lässt sich nicht gesichert feststellen. Es dürften aber in Summe auch Milliardenbeträge sein. Das palästinensische Flüchtlingshilfsprogramm UNWRA, das schon seit längerem und in jüngster Zeit massiv wegen seiner Terrorverbindungen in der Kritik steht, erhielt von den USA 2022 rund 350 Millionen Dollar. Deutschland und die EU zahlten 2022 200 bzw. 100 Millionen an UNWRA. Der größte arabische Gönner ist Saudi Arabien mit gerade einmal 27 Millionen Dollar. Aufgrund des Verdachts, dass UNWRA-Bedienstete am Terroranschlag vom 7. Oktober beteiligt waren und dass Hilfsgelder für terroristische Infrastruktur von der Hamas zweckentfremdet wurden, haben zahlreiche Länder die Zahlungen jedoch eingestellt. Bislang standen UNWRA jährlich rund 1,5 Mrd. Dollar für die Betreuung von ca. 5,9 Millionen palästinensischer Flüchtlinge zur Verfügung.
Wo gibt es Apartheid und Genozid?
Auf Salto habe ich in Artikeln und Kommentaren (Zitat Ivo Passler: „den rassistischen, genozidalen Apartheid Apparat Israel“) viel von Apartheid und “ethnischer Säuberung” gelesen und Christoph Franceschini schrieb auf dem Portal anlässlich des entrollten Spruchbandes „A Gaza c’è un genocidio“ bei einer Protestaktion im Bozner Dom während der Weihnachtsmesse, dass dieses auf eine unleugbare Tatsache hinweise.
Es gibt in Israel – wie übrigens in jedem anderen Land in jeweils unterschiedlichem Ausmaß auch – Rassismus und Diskriminierung. Nicht jede Diskriminierung ist jedoch Apartheid und eine voreilige Bezichtigung dieser kann ziemlich schnell in eine Verharmlosung des südafrikanischen Apartheid-Systems münden. Israels Demokratie ist nicht perfekt. Laut Demokratie-Index des Economist von 2021 ist Israel trotz der antidemokratischen Attacken der Netanjahu-Regierung eine „unvollständige Demokratie“ und liegt weltweit auf Platz 23 was Wahlprozess und Pluralismus, Funktionsweise der Regierung, politische Teilhabe, politische Kultur und Bürgerrechte betrifft. Italien liegt zum Vergleich dazu auf Platz 31, Österreich – als vollständige Demokratie – auf Platz 20. Die palästinensischen Autonomiegebiete hingegen werden als „autoritäres Regime“ eingestuft und liegen auf Platz 109 von 167 untersuchten Territorien.
Was die bürgerlichen Freiheiten und die Menschenrechte betrifft, die Freedom House im “Freedom in the World Index” abbildet, zeigt sich 2021 ein ähnliches Bild. Israel wird als „frei“ bezeichnet und erreicht mit 76 Punkten Rang 76 von 210 Ländern und (nicht einheitlich anerkannten) Territorien. Italien (Rang 40) und Österreich (Rang 22) fallen in die gleiche Kategorie. Gaza (11 Punkte) und das Westjordanland (25 Punkte) gelten als „nicht frei“ und landen zwischen Afghanistan (Rang 154) und Belarus (Rang 179).
Wie gesagt, es gibt Rassismus und Diskriminierung gegenüber Arabern in Israel, es gibt Siedlergewalt, Vertreibung und illegale Besetzung, gegen die der Staat zu wenig unternimmt bzw. sie gar duldet oder forciert. Und die Tatsache, dass es Antisemitismus, Gewalt und Vertreibung auch gegenüber Juden vonseiten der Araber gibt, macht den israelischen Rassismus nicht besser. Aber grundsätzlich haben Menschen in Israel – unabhängig ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung usw. – Grundrechte, die geschützt sind und eingeklagt werden können. Umgekehrt gibt es in den palästinensischen Autonomiegebieten Gesetze, die es Palästinensern verbieten, Land an Israelis bzw. Juden zu verkaufen. Ein derartiges Vergehen wird als Hochverrat betrachtet und im Gazastreifen sogar mit dem Tod bestraft. In Israel wiederum herrscht Religionsfreiheit. Es gibt dort mehr als 400 Moscheen, in denen Muslime unbehelligt ihren Glauben – auch öffentlich – praktizieren können. Gleichzeitig werden beispielsweise am Tempelberg Nicht-Muslime diskriminiert, indem deren Zugang stark eingeschränkt und limitiert ist sowie nicht-muslimische Glaubensbezeugungen verboten sind. Die meisten israelischen Araber – Frauen zumal – genießen in Israel mehr Rechte als in jedem arabischen Land. Mit Khaled Kabub sitzt ein israelisch-arabischer Moslem im Obersten Gerichtshof des Landes. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Israel ein freies Land für jene ist, die nicht zum Ziel haben, es auszulöschen und alle Juden zu vernichten, sind die Drusen, die mehrheitlich am von Israel besetzten Golan leben. Zwischen den arabischen Drusen und den jüdischen Israeli dort herrscht ein weitgehend friedliches – wenn schon nicht Mit-, dann Nebeneinander, obwohl viele Drusen die israelische Staatsbürgerschaft ablehnen (um bei einer etwaigen Rückgabe des Gebietes an Syrien nicht als Verräter zu gelten) und sich als Syrer betrachten. Andere wiederum haben sich Israel angenähert. Drusen sind in der IDF sogar überrepräsentiert und bekleiden – so wie Generalmajor Ghassan Alian – höchste militärische Ränge.
Die Situation im von Israel teilweise besetzten Westjordanland, das in die Zonen A bis C unterteilt ist, ist eine andere und wird im zweiten Teil in einem gesonderten Kapitel behandelt.
Spätestens seit der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag ist das Thema „Völkermord in Gaza“ auf der internationalen Agenda. Ich maße mir nicht an, diesbezüglich ein Urteil abzugeben, wiewohl ich eine Meinung dazu habe.
Im Gegensatz zum weitläufigen Glauben ist der Tatbestand „Völkermord“ rechtlich nicht an eine gewisse Zahl von Toten bzw. an eine erfolgreiche Durchführung desselben gekoppelt. So muss z. B. ein Bombardement, bei dem Zehntausende ums Leben kommen, nicht notwendigerweise ein Völkermord sein, während die Tötung von ein paar hundert Menschen sehr wohl einer sein kann. Entscheidend sind dabei die Intention und die Umstände. Die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert Völkermord als
eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
- das Töten eines Angehörigen der Gruppe
- das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
- die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
- die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
- die zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe
Der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 wie auch zahlreiche Aussagen von führenden Hamas-Vertretern, die die Vernichtung Israels fordern und die Hamas-Charta von 1988 erfüllen meines Erachtens diese Definition. Auszüge daraus:
Israel will exist and will continue to exist until Islam will obliterate it, just as it obliterated others before it.
The hour of judgment shall not come until the Muslims fight the Jews and kill them, so that the Jews hide behind trees and stones, and each tree and stone will say: ‘Oh Muslim, oh servant of Allah, there is a Jew behind me, come and kill him,’ except for the Gharqad tree, for it is the tree of the Jews.
There is no solution for the Palestinian question except through Jihad.
Wenngleich die israelischen Bombardements verheerend sind, der IGH Israels Regierung aufgefordert hat „umgehend Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten im Gazastreifen zu ergreifen“ und sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit tatsächlich stellt, gibt es auch Indizien, die gegen die Genozid-These sprechen:
- Hätte der 7. Oktober nicht stattgefunden und würden keine Geiseln in Gaza gefangen gehalten, wäre der Gazastreifen nicht bombardiert worden.
- Die israelische Armee hat ihre Schläge vielfach im Vorfeld angekündigt und somit einen massiven strategischen Nachteil im Kampf gegen die Hamas in Kauf genommen, um der Zivilbevölkerung die Möglichkeit zu geben, das Gebiet rechtzeitig zu verlassen. Diese Möglichkeit hatten freilich auch die Hamas-Kämpfer.
- Es ist in Israel keine strategische Absicht erkennbar, die auf die teilweise oder völlige physische Zerstörung der Palästinenser abzielt, obgleich es schon auch Aussagen einzelner, extremistischer israelischer Politiker gibt, die sehr wohl diese Absicht kundtun. Die offizielle israelische Linie und die demographischen Zahlen legen hingegen nahe, dass diese Absicht nicht besteht. Die palästinensische Bevölkerung in den Autonomiegebieten, wie auch in Israel selbst, verzeichnet mit die höchsten Zuwachsraten weltweit. Seit 1950 ist die palästinensische Bevölkerung in den Autonomiegebieten um 1.000 Prozent gewachsen. Der Anteil der muslimischen Palästinenser in Israel ist in dieser Zeit von 8,5 Prozent (ca. 150.000 Menschen) auf 18 Prozent (1,7 Millionen Menschen) gestiegen. Die palästinensische Bevölkerung in Israel hat sich also mehr als verzehnfacht. Gleichzeitig ist die Zahl der Juden in arabischen Ländern aufgrund von Vertreibung im völkermordverdächtigen Ausmaß von rund 880.000 auf unter 5.000 geschrumpft.
- Israel hat die militärische Kapazität und Übermacht, Palästina und seine Menschen völlig dem Erdboden gleichzumachen, hat sich bislang aber zurückgehalten, obwohl die Zerstörungen enorm sind. Hamas hat diese Kapazität und Macht nicht, bekräftigt jedoch, dass Israels Vernichtung ihr Ziel sei.
- Die Opferzahlen sind im Vergleich zu anderen Kriegen verhältnismäßig klein, was ein Indiz dafür ist, dass auf israelischer Seite sehr wohl Anstrengungen unternommen werden, die Zivilbevölkerung zu verschonen, wenngleich dies aufgrund der asymmetrischen Kriegsführung und der Stadtguerillataktik der Hamas im Vergleich zu anderen Kriegen sogar noch enorm erschwert wird.
Israel pocht angesichts des Massakers vom 7. Oktober und auch der Natur der Hamas auf sein Recht auf Selbstverteidigung. Und in der Tat stellt sich die Frage, wie Israel auf den Anschlag hätte reagieren sollen, damit es sich nicht mit Kritik und Anfeindungen konfrontiert sieht.
- Wenn Israel untätig bleibt oder sogar Zugeständnisse als Reaktion auf den Terror macht, interpretiert die Hamas das als Zeichen der Schwäche und intensiviert ihre Angriffe. Ein Sprecher der Hamas sagte im TV, dass sich der 7. Oktober immer und immer wieder wiederholen müsse und werde. Der vollständige Abzug Israels aus Gaza 2005 hat dazu geführt, dass der Raketenbeschuss durch Hamas ungeahnte Dimensionen annahm und Schlimmeres nur durch die fortschrittliche Technologie des „Iron Dome“ verhindert wurde.
- Wenn Israel den Grenzschutz verstärkt und die Verbindungen zu Gaza dicht macht, um seine Bürgerinnen zu schützen, ist von „Ghetto“, dem „größten Freiluftgefängnis der Welt“ und „Apartheid“ die Rede. Ungeachtet der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten.
- Wenn Israel in Gaza zurückschlägt, um eine Freilassung der Geiseln zu erzwingen und die Hamas zur Aufgabe zu drängen, kommt der Völkermord-Vorwurf. Dabei wird jedoch kaum berücksichtigt, dass aufgrund der asymmetrischen Kriegsführung die Hamas das Sterben der eigenen Bevölkerung absichtlich forciert und sozusagen Autogenozid betreibt.
Serie I II
Scrì na resposta