Noch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte ein angesehenes italienisches Fachblatt — keine rechtsextreme Kampfpostille — einen aggressiv imperialistischen Text wie den, aus dem ich hier zitiere:
Italien darf das Alto Adige nicht aufgeben. Es geht um seine strategische Vollendung. Im Jahr 1919 auf den Gipfel der Rätischen Alpen gelangt, musste Italien im Anschluss an die im Zweiten Weltkrieg erlittene Niederlage einen nachteiligen Kompromiss annehmen, um das Gebiet behalten zu können. Seither besitzt Rom die Region, ohne sich aber ihre Bevölkerung einverleiben zu können. Denn hier lebt eine weitgehend fremdstämmige Gemeinschaft, die sich der Italianisierung widersetzt und kulturell mit dem angrenzenden Österreich verwandt ist. Das ist eine Unzulänglichkeit, die sich aus der beschnittenen Souveränität ergibt, über die Italien verfügt, [und] eine Unstimmigkeit, die die territoriale Integrität Italiens unterminiert. Und doch ist dies eine unverzichtbare Voraussetzung — nicht nur vom geographischen Gesichtspunkt, der Südtirol der italienischen Einflusssphäre zuordnet. Obschon es nicht auf die Loyalität der ansässigen Bevölkerung zählen kann, verzeichnet Rom hier seine größte Ausdehnung nach Norden sowie die besten Verteidigungsbedingungen. So sieht es die militärische Grammatik, die die Eroberung der orographischen Gipfelpunkte gebietet.
Für Italien hat das Alto Adige doppelte Relevanz. Es befindet sich in seinem [eigenen] geographischen Raum, auf der Südseite der Alpen, und ist grundlegender Bestandteil der territorialen Vollendung der Nation. […] Es handelt sich dabei um einen fundamentalen Faktor der Einheit und gleichzeitig um ein notwendiges strategisches Ziel.
Im Irredentismus nach der italienischen Einheit erhoben die italienischen Patrioten aus Gründen der geographischen und kulturellen Zugehörigkeit einen Anspruch auf das Trentino (und zudem auf Triest), mit der Absicht, Gebiete gleicher Sprache zu erobern. Sie verkannten jedoch die Dringlichkeit, bis zum Brenner vorzustoßen. Einflussreiche Nationalisten waren damit einverstanden, die Grenze [nur] bis zur Salurner Klause zu versetzen, einem Dorf im Etschtal, das damals den Übergang zwischen italienischem und deutschem Sprachraum darstellte. Sie waren in Unkenntnis geopolitischer Überlegungen überzeugt, dass der Brenner zu deutsch sei, um annektiert zu werden. Lediglich der Autor von Il Trentino, Cesare Battisti, bezeichnete die Möglichkeit, die heutige Provinz Bozen zu erobern, als »militärisch großartig«.
[Nach dem Zweiten Weltkrieg] behielt Italien das Alto Adige formell, verzichtete aber darauf, die fremdstämmige Gemeinschaft zu assimilieren, der das Recht zuerkannt wurde, sich von der restlichen Bevölkerung zu unterscheiden, obschon sie an der verhängnisvollen Grenze lebt.
Die heutige territoriale Unvollendetheit Südtirols kam plastisch zum Vorschein. Ein Zustand, der von der italienischen Regierung als inakzeptabel benachteiligend betrachtet wurde, weshalb sie sich jahrelang weigerte, die Vereinbarungen [bezüglich Autonomie und Minderheitenschutz] zu erfüllen, was die gewaltsame Reaktion eines Teils der Deutschsprachigen hervorrief.
Übersetzung und Hervorhebungen von mir
Wäre da nicht der letzte von mir zitierte Absatz, würde der Text wohl mühelos als ein später Erguss des Fanatikers Ettore Tolomei durchgehen. Es ist aber auch nicht — wie man hoffen würde — die Ausgeburt eines seiner Anhänger, die vielleicht aus den 1970er oder höchstens 1980er Jahren stammt.
Um es nicht länger hinauszuzögern: Die hier wiedergegebenen Auszüge stammen allesamt aus einem Beitrag des Journalisten Dario Fabbri, der vor weniger als sechs Jahren (Juni 2018) bei Limes erschienen und nach wie vor online einsehbar ist. Die Fachzeitschrift für Geopolitik, in deren wissenschaftlichem Beirat unter anderem Enrico Letta, Romano Prodi und Giulio Tremonti sitzen, gehört zur GEDI-Gruppe, die unter anderem die linksliberalen Blätter la Repubblica und l’Espresso herausgibt.
Fabbri selbst war ab 2021 stellvertretender Leiter der Limes-Schule, arbeitet regelmäßig mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Rai zusammen und gründete 2022 mit dem italienischen Anchorman Enrico Mentana eine neue Zeitschrift für Geopolitik, Domino. Im September 2023 war er auf Einladung der Gemeinde Bozen und ihres sogenannten Friedenszentrums im Rahmen des Festivals Generazioni in der Landeshauptstadt.
Bis heute vertreten also wichtige italienische Vordenker den Standpunkt, dass Südtirol leider aufgrund der Niederlage Italiens im Zweiten Weltkrieg (und nicht aus demokratischer und historischer Einsicht) nicht mehr offen assimiliert werden kann, was aber eigentlich geboten wäre, um die nationale Einheit und Integrität zu sichern und zu vollenden. Nach wie vor und trotz europäischer Einigung gilt Experten, die unter dem Deckmantel der Friedensforschung nach Südtirol geladen werden, die Wasserscheidentheorie als strategisches Ziel, das es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt, damit Italien — O-Ton Fabbri — von oben auf Europa herabschauen kann. Er geilt sich sogar daran auf, dass die Wasserscheide mit der Übernahme von Innichen überschritten werden konnte.
Als Fabbris Kollege Federico Petroni im Jahr 2022 ebenfalls via Limes forderte, Italien müsse Südtirol wegen des »galoppierenden antizentralistischen Geistes« während der Pandemie endlich wieder unter seine Kontrolle bringen, war das offenbar kein einsamer Ausrutscher. Vielmehr war das der willkommene Anlass, um eine grundsätzlich für notwendig gehaltene Forderung zu erheben. Während Petronis Beitrag damals jedoch etwas Aufsehen erregte, war der — meines Erachtens deutlich aufschlussreichere und empörendere — von Fabbri unter dem Radar geblieben. Ein ehrenamtlich geführter Blog wie dieser muss darauf aufmerksam machen.
Gegen solche antiautonomistische, ja neokolonialistische Ergüsse müsste eine Südtiroler Landesregierung eigentlich zusammen mit Österreich lautstark ihre Stimme erheben und Protest einlegen. Doch von einem Kabinett mit Beteiligung italienischer Rechtsextremistinnen darf dies wohl nicht erwartet werden.
In jedem Fall lehrreich ist der Limes-Beitrag, der im Ton wie aus 1922 klingt, bezüglich der wahren Absichten vieler Strateginnen in diesem Nationalstaat. Es wäre wohl höchst naiv zu glauben, dass es sich dabei um einzelne, fehlgeleitete Stimmen handelt, die in der staatlichen Administration, beim Verfassungsgericht und gerade in einer rechtsrechten Regierung wie der gerade in Rom am Werk befindlichen keine Beachtung finden. Wenn regelmäßig die Lockerung oder Abschaffung von Schutzmechanismen unserer Autonomie gefordert wird, weil ohnehin keine Gefahr mehr drohe, sollten wir vielleicht daran denken, dass einige Strategen im Staat nach wie vor auf nichts anderes warten, als Italien durch Auslöschung der Minderheiten seiner wohlverdienten nationalen Vollendung zuzuführen.
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