Mit Urteil 139/2022 hatte das italienische Verfassungsgericht das bis 2021 in Südtirol geltende Verfahren zur Ernennung von Primarinnen für nicht verfassungskonform erklärt, was für das Südtiroler Gesundheitswesen zu riesigen Problemen, Kosten und Ungewissheit geführt hat. Seit Monaten argumentiere und bemängle ich, dass insbesondere die Südtiroler Medien, aber auch die Politik, außerstande sind, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen und herauszuarbeiten, dass es sich dabei um eine nachträgliche, absurde und natürlich völlig arbiträre Einschränkung der autonomen Gesetzgebungsbefugnisse gehandelt hat — und gerade nicht um einen skandalösen Versuch des Landes, irgendwelche unumstößlichen Grundsätze konspirativ zu umgehen (vgl. 01
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). Die Fähigkeit, in solchen Fällen nicht das »Opfer« (den Landesgesetzgeber) mit dem »Täter« (das immer zentralistischere Verfassungsgericht) zu verwechseln, ist von grundlegender Bedeutung, um nicht einem autonomiefeindlichen Diskurs zu erliegen.
Dass ich als juristischer Laie mit meiner Interpretation nicht ganz falsch gelegen habe, belegen folgende Ausführungen von Prof. Matteo Cosulich, seines Zeichens Vizedekan der juristischen Fakultät an der Universität Trient:
Die […] Beschränkung der Ermessensspielräume der Gesetzgebung der Region bzw des Landes im Bereich der sekundären Zuständigkeiten kann für das Land Südtirol zu äußerst unbefriedigenden Ergebnissen führen. So hat der VfGH beispielsweise im kürzlich ergangenen Urteil Nr 139/2022 zur Gesetzgebung der Autonomen Provinz Bozen festgestellt, dass das sehr detaillierte Verfahren zur Bildung der Prüfungskommission bei der Vergabe von Führungsaufträgen für komplexe Organisationseinheiten [sog. Primariate, Anm.], in der Staatsgesetzgebung geregelt durch Art 15 Abs 7-bis GvD 502/1992, in seiner Gesamtheit einen wesentlichen Grundsatz der Materie darstellt, der als solcher durch eine nachfolgende Landesgesetzgebung nicht angegriffen werden kann und im Urteil für verfassungswidrig erklärt wurde.
aus »Autonome Handlungsspielräume Südtirols in Gesetzgebung und Verwaltung: ausreichend abgesichert oder (zu) leicht einschränkbar?«, in Südtirols Autonomie gestern, heute und morgen (S. 148), Nomos 2023, Hrsg. Obwexer, Happacher
Prof. Cosulich kritisiert, dass »die Tendenz des Staates, ganze, auch sehr detaillierte Regelungen als Grundsatzgesetzgebung zu definieren« mit Billigung des Verfassungsgerichts dazu geführt habe, »dass der Umfang der Gesetzgebungsautonomie der Regionen und Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis zunehmend eingeschränkt wurde.«
Ganz grundsätzlich bemängelt Prof. Cosulich, dass die Regionen in Italien, durch das Eindringen des Staates in regionale Gesetzgebungsbefugnisse, immer mehr zu Verwaltungskörperschaften, »eine Art Makro-Gemeinden« und »bloßen Umsetzerinnen des Willens des staatlichen Gesetzgebers« degradiert würden, womit sie »ihrer politischen Autonomie beraubt im Wettbewerb mit den Gemeinden« stünden.
Wer sich also zum Beispiel im Fall der Primariate unkritisch auf die Seite des Verfassungsgerichts stellt, spielt letztendlich dem (Ultra-)Zentralismus in die Hand.
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