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Lieber Italienisch als Standarddeutsch?
Einige Überlegungen…

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Hartnäckig hält sich in Südtirol das Klischee, dass deutschsprachige Südtirolerinnen mit Italienischsprachigen lieber Italienisch als »Standarddeutsch«1gemeint ist eine möglichst wenig dialektal gefärbte, überregionale Variante des Deutschen sprächen, weil sie (die deutschsprachigen Südtirolerinnen) Letzteres schlecht beherrschten. Diese Erklärung hat mich nie ganz überzeugt — und eine Unterhaltung, die ich neulich mit einem zweisprachigen, aus Mittelitalien stammenden Mann — nennen wir ihn klischeehaft Mario — geführt habe, bestärkt mich in meinem Zweifel.

Ich selbst versuche seit Jahren, möglichst oft Deutsch mit italienischsprachigen Mitbürgerinnen zu sprechen, statt immer ins Italienische zu wechseln, doch damit bin ich vermutlich eher eine Ausnahme.

Mario, den ich nicht näher kenne, bin ich diesen Sommer bei einer privaten Veranstaltung begegnet, wo er mich ausdrücklich gebeten hat, Dialekt mit ihm zu sprechen. Was mir wirklich schwer gefallen ist. Aus meiner Verwunderung über seine unkonventionelle Bitte und meinem generellen Interesse für dieses Thema ist dann aber ein spannendes Gespräch entstanden, über das ich seitdem mehrmals nachdenken musste. Mit ihm Dialekt zu sprechen ist mir vor allem deshalb schwer gefallen, weil er zwar italienischer Muttersprache ist, jedoch nahezu akzentfrei »Standarddeutsch« spricht, da er — wie er mir erklärte — mehrere Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hat. Mir persönlich wäre es deshalb leichter gefallen, ebenfalls »Standarddeutsch« mit ihm zu sprechen.

Er hat mir dann erzählt, dass er seit einigen Monaten im öffentlichen Dienst in Südtirol beschäftigt ist und dass ihm seine »Kundinnen« (und darüberhinaus viele seiner Mitarbeiterinnen) fast immer auf »Standarddeutsch« antworten, ganz egal, ob sie wissen, dass er italienischer Muttersprache ist. Dass er Italienisch mindestens genauso gut spricht wie »Standarddeutsch« wüssten fast alle, da er an seinem Arbeitsplatz auch in Anwesenheit der »Kundinnen« mit einem italienischsprachigen Mitarbeiter fast immer Italienisch spreche. Wer also lieber Italienisch mit ihm sprechen wollte, hätte jederzeit die Möglichkeit dazu, doch im Übrigen biete er den Leuten — in den allermeisten Fällen vergeblich — aktiv an, im Dialekt zu sprechen, da er ihm gefalle und er sich dafür interessiere.

Ich kann die Existenz von Mario nicht beweisen und noch weniger das, was er mir erzählt hat. Wichtiger scheint mir jedoch, dass es glaubwürdig klingt und vermutlich von vielen Südtirolerinnen deutscher Muttersprache gut nachempfunden werden kann: Würden sie mit einer Person italienischer Muttersprache, die ausgezeichnet »Standarddeutsch« spricht und die sie auf Deutsch anspricht, ins Italienische wechseln — selbst wenn sie wüssten, dass sie italienischer Muttersprache ist? Vermutlich noch eindeutiger beantwortbar: Würden sie mit einer Person aus Deutschland, die perfekt Italienisch spricht, lieber Italienisch als »Standarddeutsch« sprechen?

Die von Mario geschilderte Erfahrung spricht meiner Meinung nach ziemlich eindeutig gegen das Klischee von den deutschsprachigen Südtirolerinnen, die grundsätzlich lieber Italienisch als »Standarddeutsch« sprechen würden.

Vielmehr dürften nach meiner Interpretation andere Mechanismen dafür verantwortlich sein, dass Südtirolerinnen mit italienischen und »ausländisch gelesenen« Mitbürgerinnen — also sogenannten Outgroup-Kontakten — vorauseilend ins Italienische wechseln, statt bei Deutsch zu bleiben:

  • Falsch verstandene, aber sozial antrainierte »Höflichkeit« (sprachliche Unterordnung).
  • Kurzfristig »zielführende« Bequemlichkeit, derzufolge es einfacher ist, sich ggf. nicht so gut wie in der eigenen Erstsprache ausdrücken zu können, aber sicher zu sein, dass das Gegenüber das Gesagte vollständig verstehen kann — statt bei der Erstsprache zu bleiben und das Risiko einzugehen, dass nicht alles verstanden wird.

Für diese Auslegung spricht aus meiner Sicht, dass solches Verhalten bei so gut wie allen Sprachminderheiten beobachtet werden kann — und zwar unerheblich, ob sie einen Dialekt sprechen oder nicht (vgl. 01 02). Für ihren Fortbestand ist es mitunter verheerend, sodass vielfach versucht wird, den entsprechenden Reflex aktiv abzutrainieren. Wer aber den Südtirolerinnen vorwirft, lieber Italienisch als Deutsch zu sprechen, weil sie ihre eigene (Standard-)Sprache gar nicht beherrschten, könnte sich unter Umständen Victim Blaming vorwerfen lassen müssen.

Cëla enghe: 01 02 03 04 | 05 06 07 || 01

  • 1
    gemeint ist eine möglichst wenig dialektal gefärbte, überregionale Variante des Deutschen


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Comentârs

One response to “Lieber Italienisch als Standarddeutsch?
Einige Überlegungen…

  1. artim avatar
    artim

    Es ist eine Frage des Mindsets, wie das Beispiel hier zeigt. Sprache ist im umfassenderen Sinne eine Form gesellschaftlichen Handelns.
    Das erkennt man auch, wenn man das Südtirol mit der angrenzenden Schweiz vergleicht.

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