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Wer will mehr?
Teil II

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Nicht nur nördliche Regionen drängen auf Autonomie

Die reiche und rote Region Emilia-Romagna will mehr Autonomie. Der Präsident der Region, Stefano Bonaccini vom PD, vereinbarte bereits mit Ex-Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni, die Region auf den Weg der Autonomie zu bringen. Eine Vereinbarung, getroffen vor den Autonomie-Referenden in den nicht weniger reicher Regionen Venetien und Lombardei, verwaltet von einer Mitte-Rechts-Koalition.

Mehr Autonomie ermöglicht die Verfassungsreform von 2001, initiert von der damaligen Mittelinksregierung. 16 Jahre dauerte es, bis eine Region die Umsetzung des Verfassungsartikels 116 in Anspruch nahm. Der emilianische Präsident verhandelte mit dem damals mächtigen Staatssekretär Gianclaudio Bressa, einem Parteifreund, bereits die ersten Schritte aus.

»Unglaublich, aber wahr: 16 Jahre lang ist es keiner Region eingefallen, den Artikel 116 zu beanspruchen«, kommentierte auf dem Nachrichtenportal Salto Gerhard Mumelter die Phantasielosigkeit der Regionalpolitiker Italiens. 33 Kompetenzen — Aufgabenbereiche von der Bildung über den Denkmal- und Umweltschutz, von der Ziviljustiz über die Energie bis hin zu den internationale Beziehungen — können vom Staat auf die Regionen übertragen oder mit dem Staat geteilt werden. Für jede Region muss die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen, der vom Parlament mit absoluter Mehrheit genehmigt werden muss. Ein schwieriges und besonders langwieriges Unterfangen.

Mit Referenden schneller zur Autonomie?

Zwei weitere reiche Regionen, Venetien und die Lombardei, wollten mit ihren nicht bindenden Volksbefragungen die Autonomieverhandlungen beschleunigen. Beiden Regionen standen Politiker der Lega vor, Luca Zaia in Ventien und Roberto Maroni in der Lombardei. Zaia war während einer der Regierungen von Silvio Berlusconi kurzfristig Landwirtschaftsminister, Maroni Innenminister. Viel Föderalistisches setzten die beiden Legisten damals nicht um, jetzt wollen sie es offensichtlich nachholen. Maroni wurde inzwischen von seinem Parteifreund Fontana beerbt.

Venetiens Präsident Zaia forderte nach dem erfolgreichen Referendum eine Autonomie wie Südtirol, die Region Venetien solle ein Sonderstatut erhalten. Er will alle 33 möglichen Kompetenzen für seine Region und die entsprechende Verankerung in der Verfassung. Vorbild Südtirol. Zaia will mehr als sein lombardischer Kollege Maroni, der sich mit jenen 27 Kompetenzen zufrieden geben will, die der Zentralstaat nicht exklusiv für sich beansprucht, wie Bildung, Umweltschutz, Ziviljustiz, Kulturgüter, Umweltschutz, Energie und internationale Beziehungen.

Maroni trat leiser auf, in der Lombardei beteiligten sich nur 37 Prozent der WählerInnen an der Abstimmung. In Mailand waren es gar nur 25 Prozent. Die WählerInnen von Mittelinks boykottierten das Referendum und offensichtlich auch die Berlusconi-Anhänger. Trotzdem, Maroni erhielt ein zustimmendes Votum, mit der Regierung in Rom über mehr Selbstverwaltung zu verhandeln. Weniger zurückhaltend agierte Zaia, fast 60 Prozent Wahlbeteiligung, fast alle für Autonomie. Ein Ereignis, das dem Fall der Berliner Mauer gleiche, schwärmte Zaia. »Jetzt bleiben 90% der Steuern in der Region«, verkündete er.

Nur zu den eigenen Konditionen

Beide Regionen überweisen jährlich 100 Milliarden Euro an die römische Regierung, im Verhältnis deutlich mehr als die westdeutschen an die ostdeutschen Bundesländer. Die beiden Regionen gelten als die Wirtschaftsmotoren des Landes, sorgen mit ihrem ökonomischen Schwung auch für eine wirtschaftliche Aufhellung in anderen Regionen. Die hohe Steuerlast bremst aber immer wieder den Motor und damit auch die gesamtstaatliche wirtschaftliche Erholung. Zaia und Maroni betonten, Maroni-Nachfolger Fontana tut es ebenfalls, dass sie sich zur Solidarität mit dem Rest des Landes bekennen, aber zu den eigenen Konditionen.

Derzeit überweist die Regierung an die nicht-autonomen Regionen das Geld direkt. Die Summen fallen mehr als bescheiden aus, gemessen am sogenannten residuo fiscale, den von den Regionen eingenommenen und an den Staat übertragenen Steuergeldern. Die Differenz zwischen dem, was ein/e BürgerIn an Steuern und Abgaben bezahlt und dem, was sie an Dienstleistungen zurückbekommen, ist erheblich. Die Lombardei beziffert diesen Betrag auf 54 Milliarden, Venetien auf 15 Milliarden jährlich.

Das Nord-Süd-Gefälle

Die Zahlen bestätigen das Nord-Süd-Gefälle: Während jeder Lombarde jährlich 4.000 Euro »ausgibt«, »verdient« jeder Sarde ohne eigenes Zutun fast 3.200 Euro. Jeder Südtiroler trägt jährlich mit 2.200 Euro zum gesamtstaatlichen Steueraufkommen bei, jeder Bewohner Venetiens mit etwas mehr als 700 Euro.

Mit einem satten Teil der Steuergelder aus dem Norden werden die Schulden der südlichen Regionen abgezahlt. So erhält die Region Sizilien jährlich 10,6 Milliarden Euro, Sardinien 5,2, Kalabrien 5,8, Kampanien 5,7 und Apulien 6,4 Milliarden. Schon 2015 versuchte Venetiens Präsident Zaia mit einem Antrag auf eine Volksabstimmung das Verteilungssystem auszuhebeln. Mit dem Ziel, 80 Prozent der in Venetien erhobenen Steuern in der Region zu behalten. Das Verfassungsgericht lehnte die Volksabstimmung als verfassungswidrig ab. Volksabstimmungen über das Steuersystem sind nicht zulässig.

Zaia und seine Forderungen schreckten den Regierungsapparat auf. Für Staatssekretär Bressa vom PD war es eine Provokation, strategisch gut getimt damals vor den anstehenden Parlamentswahlen. Das von Zaia angestrebte Sonderstatut für Venetien ist in der Verfassung nicht vorgesehen, diese müsste geändert werden, lehnte Bressa Zaias Wünsche ab.

Italien bleibt unteilbar

Derzeit gibt es fünf autonome Regionen mit Sonderstatuten, also weitreichenden Autonomien, mit sehr unterschiedlichen rechtlichen und geschichtlichen Hintergründen. Dabei bleibt es, blieb Bressa stur. Er bot Zaia allerdings Verhandlungen an. Voraussetzung dafür sollte ein entsprechendes Regionalgesetz sein, verabschiedet vom Regionalrat. Bressa verwies auf die Emilia-Romagna, den regionalen Musterschüler.

Im Vorfeld der venetischen und lombardischen Referenden hatte sich auch das italienische Verfassungsgericht zu Wort gemeldet. Italien sei eine unteilbare Republik, erinnerten die Höchstrichter die Lega-Politiker an die Kernaussage der Verfassung. Mit dieser Feststellung bezogen sich die Verfassungsrichter auf die angestrebte Steuerhoheit, die einem Steuersezessionismus gleichkomme. Das schmeckt nach »wehret den katalanischen Anfängen«.

Schützenhilfe bekam Bressa auch vom ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts, Ugo De Siervo. Dieser kritisierte Zaia scharf wegen seiner Forderung, Venetien mit einem Sonderstatut auszustatten: Zaia und seine Regionalregierung hätten die Bürger für mehr Autonomie abstimmen lassen und nicht für ein Sonderstatut.

Woher der Wind weht

Der neue autonomistische Wind unter dem Segel der Lega in Venetien und in der Lombardei sorgte für Nachahmer. Auch in Ligurien (Mitterechts), in Piemont (Mittelinks) und in der süditalienischen Region Basilikata (Mittelinks) wurden autonomistische Wünsche artikuliert. Auch sie setzten auf Referenden.

Für die Ausstattung der Regionen mit Autonomie gilt als Grundlage die Verfassungsreform von 2001, die den sogenannten regionalismo differenziato vorsieht, also mehr regionale Autonomie. Warum die Regionen erst jetzt die Chance erkennen? Mehr Autonomie bedeutet mehr Macht, aber auch größere Verantwortung. Sonderlich scharf darauf sind viele der Regionalpolitiker nicht. In der Ära Berlusconi kam die Lega unter die Räder der Zentralisten von Forza Italia und Alleanza Nazionale. Das große föderalistische Projekt blieb im Gestrüpp der beiden anderen Parteien hängen.

Der Autonomie-Frühling im Herbst stärkt innerhalb der Lega den traditionellen Flügel, die norditalienischen Föderalisten um Zaia und Maroni. Trotzdem reklamierte Lega-Chef Matteo Salvini die Referendums-Siege für sich, er kündigte Unterstützung für alle Regionen an, die per Volksvotum ihre Autonomie anstrebten. Sonntagsgeschwätz, die Koalitionsregierung 5SBLega rührte die Autonomie nicht an. Die Nachfolge-Regierung aus Fünf Sternen und PD plagte sich mit der Pandemie und ihren Auswirkungen, die Allparteienregierung von Mario Draghi scherte sich wenig um autonome Wünsche.

Jetzt will es die Lega wissen — im Bündnis mit den Neo- oder Postfaschisten von den Fratelli und Forza Italia. Minister Calderoli, kein Sympathieträger, wagt nun den Versuch, den Zentralstaat umzubauen. Damit würde auch ein Verfassungsauftrag endlich erfüllt werden.

Die Verfassung aus dem Jahr 1948 sieht die Regionalisierung vor. Umgesetzt, halbherzig und schmalspurig, wurde sie erst 1970. Es »entstanden« die Regionen mit Normalstatut. Dezentrale Zweigstellen des Staates, ohne Autonomie.

Die differenzierte Autonomie gab es damals schon. 1946 gewährte das Königreich Italien, wegen der angeblich befürchteten Sezession, Sizilien eine robuste Autonomie. Sehr weitereichend, vergleichbar mit deutschen Bundesländern. Die sizilianische Elite machte wenig daraus. Im Gegenteil, sie baute sie ab.

Wegen des antifaschistischen Widerstandes der Sarden und Aostaner erhielten 1948 ihre Regionen auf Grundlage der Verfassung Autonomien, wie auch Südtirol in Zwangsehe mit dem Trentino. Letzteres ein Verstoß gegen den österreichisch-italienischen Pariser Vertrag. Friaul-Julisch Venetien kam erst nach Klärung der Grenzfrage mit Jugoslawien 1963 zum autonomen Regionalstatut. Regionalautonomie auch als Instrument des Minderheitenschutzes?

Trotz dieser fünf autonomen Regionen und Provinzen ist Italien nicht auseinander gefallen, die differenzierte Autonomie beschädigte nicht die »eine und unteilbare Republik«.

Eines ließ Venetiens Präsident Zaia die rechtsrechte Regierung wissen: Wird nichts aus der Autonomie, werde diese Regierung platzen und scheitern. Eine klare Ansage aus der Heimat der Lega.

Serie I II


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Comentârs

One response to “Wer will mehr?
Teil II

  1. Matthias Wallnöfer avatar
    Matthias Wallnöfer

    […] wie auch Südtirol in Zwangsehe mit dem Trentino. Letzteres ein Verstoß gegen den österreichisch-italienischen Pariser Vertrag.

    Genau um diese Frage geht es im Buch von Rolf Steiniger “Los von Rom?”. Die Lektüre dieses Textes lässt erahnen, wie viel Verwirrung es um die Abgrenzung des Autonomiegebiets gab. Das Ergebnis bestand in der Schaffung einer Region mit Doppelbezeichnung, in der wir oft das Nachsehen hatten und wir auch heute noch nicht selten als “Trentini” angeredet werden, sobald wir uns etwas Richtung Süden bewegen. Ganz zu Schweigen von einer Vielzahl an Websites von Betrieben und Institutionen, welche Südtirol in den Auswahllisten der Regionen getrennt führen könnten, da unser Rang als autonome Provinz fast einer Region gleichkommt.

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