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Arm machender Unabhängigkeitswunsch?

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ai

In der Rubrik Jenseits des Brenners war in der ff vom 8. Juni ein kurzer Beitrag von Zeit-Redakteur Ulrich Ladurner über Schottland erschienen. Seit dem Unabhängigkeitsreferendum von 2014 sei das Land nicht weit gekommen, heißt es da — und für den Beweis müssen drei wirtschaftliche Größen herhalten:

  • Das »Bruttoinlandseinkommen (Bip)« (sic) stagniere auf dem Niveau von 1998.
  • Die Produktivität der Wirtschaft sei gering.
  • Während in England pro 10.000 Menschen 71 Unternehmen im Jahr gegründet würden, seien es in Schottland nur 46 — nicht wenige Schottinnen seien »sehr arm«.

Das Fazit ist schnell zur Hand:

Die Schotten sind dem Traum der Unabhängigkeit nachgelaufen und haben vergessen[,] sich der Realität zu stellen. Jetzt werden sie von der Wirklichkeit eingeholt.

So schlimm ist das halt, wenn man Unrealistischem hinterherläuft. Besser man macht es wie Südtirol, das sich auf Gedeih und Verderb und immer enger an einen Staat mit blendenden Wirtschaftszahlen neofaschistischen Tendenzen bindet.

Faktencheck

Ich habe auch versucht, die ff-Zahlen für Schottland zu überprüfen, was gar nicht so leicht ist, wenn Quellenangaben fehlen und darüber hinaus mit Begriffen geschlampt wird.1Das Bruttoinlandseinkommen ist etwas anderes als das BIP (Bruttoinlandsprodukt), obwohl sie im Beitrag synonym verwendet werden.

  • Lassen wir mal unberücksichtigt, dass Schottland politisch und wirtschaftlich stark auf die Zusammenarbeit in der EU gesetzt hatte und dann gegen den großmehrheitlichen Willen der dortigen Bevölkerung zum Brexit gezwungen wurde.
  • Offiziellen Angaben des britischen Parlaments zufolge macht die schottische Bevölkerung 8,1% der Gesamtbevölkerung im Staat aus und erwirtschaftet rund 8% des BIP (2019). Das ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass Schottland traditionell wirtschaftlich schwächer war und dass die Wirtschaftsmetropole London die zahlen zugunsten von England frisiert. Schottland hinkt also gesamtwirtschaftlich nicht hinterher.
  • Das schottische BIP stagniert auch keineswegs auf dem Niveau von 1998, sondern ist von 84.958 Mio. Pfund (1998) um 113% auf 181.018 Mio. Pfund (2021) gestiegen.2Das BIP des gesamten Vereinigten Königreichs ist in diesem Zeitraum um 127% gewachsen.
  • Einer wissenschaftlichen Studie zufolge ist die Produktivität zwischen 2009 und 2017 in nur zwei von zwölf statistischen Regionen des Vereinigten Königreichs3Nordirland und West Midlands (vgl. Tabelle S. 23) mehr gewachsen als in Schottland. Absolut liegt die schottische Produktivität auf Platz drei nach London und Südostengland.4vgl. Tabelle S. 13 Nicht vom Fleck kommen sieht meiner Meinung nach anders aus.
  • Einer vom britischen Parlament veröffentlichten Analyse (S. 12) zufolge ist die Gesamtanzahl der Unternehmen zwischen 2021 und 2022 in England um 2% geschrumpft, in Schottland stabil geblieben und in Wales um 5% gewachsen. Die von ff veröffentlichten Zahlen571 Unternehmensgründungen jährlich je 10.000 Einwohnerinnen in England, 46 in Schottland. konnte ich weder bestätigen noch widerlegen, doch diesbezüglich scheint in Summe derzeit die schottische Wirtschaft solider zu sein. Nur die Neugründungen ohne die Schließungen6Schließungen 2021-22: England und Wales +33,6%, Nordirland +26,1%, Schottland +21,6% zu betrachten ist wohl nicht so sinnvoll.
  • Die Feststellung schließlich, dass »nicht wenige« Schottinnen »sehr arm« seien, ist so diffus, dass sie kaum widerlegt werden kann. Falls aber suggeriert werden soll, dass Armut in Schottland verbreiteter sei als im restlichen Königreich, ist dies irreführend. Laut BBC ist sogar das genaue Gegenteil der Fall.

Ich finde, dass auch der irrationale Hass auf die Selbstbestimmung seriöse Medien nicht blind für Fakten machen und zur Verbreitung von Fake News verleiten sollte. Aber vielleicht gibt die ff ja noch ihre Quellen bekannt und straft mich Lügen.

Cëla enghe: 01

  • 1
    Das Bruttoinlandseinkommen ist etwas anderes als das BIP (Bruttoinlandsprodukt), obwohl sie im Beitrag synonym verwendet werden.
  • 2
    Das BIP des gesamten Vereinigten Königreichs ist in diesem Zeitraum um 127% gewachsen.
  • 3
    Nordirland und West Midlands (vgl. Tabelle S. 23)
  • 4
    vgl. Tabelle S. 13
  • 5
    71 Unternehmensgründungen jährlich je 10.000 Einwohnerinnen in England, 46 in Schottland.
  • 6
    Schließungen 2021-22: England und Wales +33,6%, Nordirland +26,1%, Schottland +21,6%


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Comentârs

2 responses to “Arm machender Unabhängigkeitswunsch?”

  1. Simon avatar

    Hierzu ist diese Woche in ff 27/23 folgender Leserbrief von mir erschienen:

    In der Kolumne wurde die Behauptung aufgestellt, Schottland sei seit dem Unabhängigkeitsreferendum von 2014 „nicht weit gekommen“, weil es „dem Traum der Unabhängigkeit nachgelaufen“ sei — und man dabei vergessen habe, „sich der Realität zu stellen“. Das Bip stagniere auf dem Niveau von 1998 (!), die Produktivität sei gering und es gebe deutlich weniger Unternehmensgründungen pro Einwohner und Einwohnerin als in England.

    Da mir die Herkunft Ihrer Informationen nicht bekannt ist, habe ich aus Neugier selbst recherchiert, ob diese Angaben stimmen. Doch seriösen Quellen (UK-Parlament, Britisches Statistik­institut etc.) zufolge sieht die Realität etwas anders aus: Demnach soll das schottische Bip zwischen 1998 und 2021 um 113 Prozent gewachsen sein, die Produktivität von Schottland auf Platz drei von zwölf statistischen Regionen des Vereinigten Königreichs liegen und das Saldo zwischen Unternehmensgründungen und -schließungen (2021–22) in England negativ und in Schottland ausgeglichen sein.

    Eine weitere Behauptung in Ihrem Beitrag war, dass in Schottland „nicht wenige“ Menschen „sehr arm“ seien. Wenn damit suggeriert werden soll, dass die Armut in anderen Regionen des Landes, die nicht „der Unabhängigkeit nachgelaufen“ sind, geringer sei, scheint auch dies einem Bericht der BBC (2020) zufolge keineswegs zu stimmen. Nach Nordirland ist Schottland demzufolge das Gebiet mit der geringsten Armut im Königreich.

    Vielleicht haben Sie ja andere seriöse Quellen, die Ihnen recht geben, doch dann würde ich Sie darum bitten, sie bekanntzugeben. Die irrationale Abneigung gegen die Selbstbestimmung sollte seriöse Medien wie Ihres aber nicht blind für Fakten machen.

    Simon Constantini, Brixen


    Der Vollständigkeit halber das eingesandte Original (Unterschiede fett hervorgehoben):

    In Ihrem Beitrag wurde die Behauptung aufgestellt, Schottland sei seit dem Unabhängigkeitsreferendum von 2014 „nicht weit gekommen“, weil es „dem Traum der Unabhängigkeit nachgelaufen“ sei — und man dabei vergessen habe, „sich der Realität zu stellen“. Das BIP [Duden] stagniere auf dem Niveau von 1998 (!), die Produktivität sei gering und es gebe deutl[i]ch weniger Unternehmensgründungen pro Einwohner:in als in England. Da mir die Herkunft Ihrer Informationen nicht bekannt ist, habe ich aus Neugier selbst recherchiert, ob diese Angaben stimmen. Doch seriösen Quellen (UK-Parlament, Britisches Statistikinstitut etc.) zufolge sieht die Realität etwas anders aus: Demnach soll das schottische BIP zwischen 1998 und 2021 um 113% gewachsen sein, die Produktivität von Schottland auf Platz drei von zwölf statistischen Regionen des Vereinigten Königreichs liegen und das Saldo zwischen Unternehmensgründungen und -schließungen (2021-22) in England negativ und in Schottland ausgeglichen sein. Eine weitere Behauptung in Ihrem Beitrag war, dass in Schottland „nicht wenige“ Menschen „sehr arm“ seien. Wenn damit suggeriert werden soll, dass die Armut in anderen Regionen des Landes, die nicht „der Unabhängigkeit nachgelaufen“ sind, geringer sei, scheint auch dies einem Bericht der BBC (2020) zufolge keineswegs zu stimmen. Nach Nordirland ist Schottland demzufolge das Gebiet mit der geringsten Armut im Königreich. Vielleicht haben Sie ja andere seriöse Quellen, die Ihnen Recht [Duden] geben, doch dann würde ich Sie darum bitten, sie bekanntzugeben. Die irrationale Abneigung gegen die Selbstbestimmung sollte seriöse Medien wie Ihres aber nicht blind für Fakten machen.

    Simon Constantini, Brixen

    1. Harald Knoflach avatar
      Harald Knoflach

      Es ist bizarr, dass sie die Akronyme, die im Deutschen in Großbuchstaben geschrieben werden, “italianisieren” und somit falsch schreiben. Nato, Ue, Usa lassen grüßen.

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