Die Verherrlichung von Stepan Bandera schadet der demokratischen Ukraine und ihrem Widerstand gegen die russischen Invasionstruppen.
Das Idol ukrainischer Nationalisten war ein Faschist, schrieben 2014 und 2015 ein polnischer und ein deutscher Historiker. Wilfried Jilge empfahl der ukrainischen Gesellschaft in seiner Abhandlung »Stepan Bandera – zum historischen und politischen Hintergrund einer Symbolfigur«, sich offen der Geschichte der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) zu stellen. Deren dunklen Seiten dürfen nicht verschwiegen werden.
Die kaum aufgearbeitete Geschichte Banderas nutzte das Putin-Regime scham- und schonungslos aus — die heutige ukrainische Regierung steht laut Kreml-Darstellung in der Tradition der Bandera-Faschisten, den banderowzy. Die Propagandisten zitieren in ihrer Geschichtsfälschung die angeblich massive Präsenz von mutmaßlichen russophoben Radikalnationalisten, Antisemiten oder radikal neonazistischen Gruppen beim Maidanprotest 2014. Tatsächlich aber waren sie nur eine Randerscheinung der pro-europäischen Kundgebung.
Der hunderttausendfache Protest fegte den korrupten, mafiösen und gewalttätigen Putin-Statthalter Janukowitsch von der Partei der Regionen aus dem Präsidentenpalast. Die Abwahl im gewählten Parlament wurde von den Kreml-Verschwörungstheoretikern zum Putsch umgedeutet — gesteuert von Rechten, besonders von der nationalistischen Partei Swoboda.
Jilge widerspricht dieser Darstellung eines faschistischen Putsches, der die Ukraine in die Arme der EU und der NATO hätte treiben sollen. Diese Erzählung aus dem Giftschrank des Kremls erfüllt laut Jilge aber noch eine viel wichtigere Funktion: Sie soll die eigenständige ukrainische Nation und die von ihr in freier Selbstbestimmung angestrebte europäische Integration diskreditieren.
Nicht zufällig erschienen 2014 in Russland gleich mehrere populärwissenschaftlichen Monografien über Bandera und über die russisch-ukrainischen Beziehungen. Die russischen Autoren schrieben sich die Geschichte zurecht, genauso die Zugehörigkeit der Ukraine zur Sowjetunion und in der Folge zu Russland. Russische Nationalisten pflegen die Vorstellung von Russen und Ukrainern als »Brüder in Blut und Glaube«. Ganz in diesem Sinne ist deshalb die angestrebte »natürliche« Integration der Ukraine in die von Russland geführte »russische Welt« (russkij mir) russische Staatsdoktrin. Derzeit findet diese »Integration« statt: mit massiver Waffengewalt.
Als Fortsetzung dieses Buches ist die Arbeit über Stepan Bandera zu verstehen. Der namenlose Bandera-Autor konstatiert, dass es »zwei Ukraine« gibt, zitiert Jilge: »Eine echte Ukraine der slawischen Bruderschaft, die einig mit Russland sei, sowie eine prowestliche, russophobe Ukraine, mit der wir in der Vergangenheit nicht nur einmal kämpfen mussten«. Der Autor dieses 2014 erschienen Buches warnt: Bleiben »die banderowzy an der Macht, ist es nicht ausgeschlossen, dass man in Zukunft wieder kämpfen muss«. Seit Februar 2022 legt Russland große Teile der Ukraine in Schutt und Asche.
Wilfried Jilge schaut weit zurück in die ukrainische Geschichte: 1929 wurde in Wien die OUN gegründet, zu den Gründern gehörte der aus der Ostukraine stammende Dmytro Donzow (1883–1973). Er wurde zum wichtigsten Ideologen und Vordenker des radikalen »integralen Nationalismus« der OUN. Laut Donzow und seinen Gefolgsleuten musste die ukrainische Nation erst erschaffen werden. Als Feinde der zu schaffenden Nation galten Polen, russischen Bolschewiken und Juden. Donzow sprach von den Juden als Erfüllungsgehilfen der Russen.
Dieser Nationalismus definierte sich als antidemokratisch, antiparlamentarisch, antisemitisch und autoritär. Die OUN stand für das Führerprinzip, für eine hierarchische Struktur, für einen absoluten Machtanspruch und hatte einen faschistisch verfassten Staat im Blick. Mussolini und Hitler waren die geistigen Paten. Die Parteien der Ukrainer im polnischen Galizien, wo außerhalb der ukrainischen SSR die meisten Ukrainer lebten, lehnten den Machtanspruch der OUN ab.
Für die OUN war der Krieg das Mittel und das Instrument, die ukrainische Nation zu schaffen. In »Zehn Gebote des ukrainischen Nationalisten« beschrieb die OUN ihre Strategie. Radikaler nationaler Egoismus, Rücksichtslosigkeit gegenüber den Feinden, unbedingte Opferbereitschaft, gewaltsamer Kampf. »So ließen sich individueller Terror und Verbrechen moralisch rechtfertigen, wenn diese dem Interesse der ukrainischen Nation dienten«, erklärt Jilge die entgrenzte Gewaltpolitik der OUN.
Als Untergrundorganisation operierte die OUN in den frühen 1930ern in den ukrainischen Regionen im südöstlichen Polen. Die polnische Elite setzte auf eine gnadenlose Diskriminierung der ukrainischen Bevölkerung. Sie stand deshalb im Visier der OUN-Terroristen. Aber nicht nur sie. Ermordet wurde auch Tadeusz Hołówko, einer der wenigen polnischen Politiker, die sich für die Rechte der ukrainischen Minderheit einsetzten, für Jilge ein weiteres Beweisstück für den blinden Nationalismus der OUN. Genauso galten gemäßigte Ukrainer, ukrainische Kommunisten und sowjetische Vertreter in Polen als zu tötende Feinde.
Der polnische Staat reagierte mit einer brutalen »Pazifizierung« ukrainischer Dörfer im polnischen Galizien, erinnert Jilge an den nicht weniger gewalttätigen polnischen Nationalismus. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene polnische Republik, Heimat auch vieler Nationalitäten, setzte meist auf die Polonisierung der nationalen Minderheiten, besonders der Ukrainer. Die nationale Unterdrückung trieb viele Jugendliche in der polnischen Westukraine in die Reihen der OUN.
Zu Opfern des OUN-Terrors wurden damals auch schon jüdische Nachbarn, ihre Geschäfte wurden abgefackelt. Die ukrainischen Nationalisten warfen »den Juden« vor, den Handel in den Städten zu kontrollieren und damit die Entstehung eines ukrainischen Mittelstandes zu verhindern, die Keimzelle für die ukrainische Nation.
Besonderen Auftrieb erlebte die OUN während des Holodomors in den 1930er Jahren in der ukrainischen Sowjetrepublik. Laut dem ukrainisch-us-amerikanischen Historiker Serhii Plokhii war das Stalin-Regime nicht nur hinter dem ukrainischen Getreide her, sondern hatte auch die ukrainische Kultur und letztlich die ukrainische Identität im Visier. Den politisch herbeigeführten Hungertod von mehr als vier Millionen UkrainerInnen bezeichnet Plokhii als Völkermord. Diese These bestätigt die US-amerikanische Historikerin Anne Appelbaum in ihrem Standard-Werk »Roter Hunger«. Sie verweist auf den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, der die staatlich herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine als klassisches Beispiel für seinen Begriff »Genozid« beschrieb. In der sowjetischen und russischen Geschichtsschreibung kommt der Holodomor nicht vor.
Genauso wenig die Vernichtung der ukrainischen Intelligenzija, meist frei denkende linksgerichtete Intellektuelle, erinnert der Essayist Wolodymyr Yermolenko an das stalinistische Wüten. Mit ihrer Ermordung einher ging der »Linguizid«, die gezielte Zurückdrängung der ukrainischen Sprache, die Etablierung des Russischen als Alltagssprache.
Angesichts des erlittenen Leids durch die Sowjets applaudierten 1941 viele UkrainerInnen der einmarschierenden deutschen Wehrmacht zu. Die Soldaten Nazi-Deutschlands wurden als Befreier von den Bolschewiki empfangen. Die OUN, Stepan Bandera und seine Mitstreiter knüpften schon frühzeitig Kontakte zu Nazi-Deutschland, bekämpften im Sinne des Nationalsozialismus Polen, Juden und Sowjets. Bandera und seine nazifreundlichen Nationalisten riefen die unabhängige Republik Ukraine aus. Die deutschen Nazis unterdrückten die Staatsgründung, die Bandera-Ukraine existierte als Schattenrepublik, hatte frappierende Ähnlichkeiten mit dem ustaschafaschistischen Kroatien.
Die heutigen russischen Medien zogen Vergleiche zwischen dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 und den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan in Kyjiw 2014. Die Demonstranten wurden zu neuen »banderowzy« hochgeschrieben, zu Bandera-Faschisten, aus russischer Sicht »Kollaborateure der USA und der Europäischen Union« (Wilfried Jilge) im Krieg gegen russischsprachige Menschen und gegen alles Russische. Historischer Neusprech.
Die deutsche Wehrmacht und die mit ihr nachrückenden NS-Verbände vertrieben die Roten Armee und die Sowjetmacht, die Nazis errichteten in der Ukraine ein brutales rassistisch-kolonialistisches Regime — mit ukrainischen Verbündeten auf ihrer Seite, den Bandera-Leuten. Historiker Jilge charakterisiert diese Ära als dunkelsten Teil der ukrainischen Geschichte, der lange tabuisiert war. Erst in der unabhängigen und demokratischen Ukraine begann zögerlich die Aufarbeitung.
Die Nationalisten von Bandera beteiligten sich mit ihren Milizen an den Pogromen der Nazis gegen ihre jüdischen Landsleute in der westlichen Ukraine. Die Juden galten für die Nationalisten kollektiv als sowjetische Kollaborateure. In der Ukraine »praktizierte« die Wehrmacht die Shoah mit den Kugeln, Babyn Yar in Kyjiw mit mehr als 30.000 Ermordeten in zwei Tagen steht stellvertretend für diese Massenmorde.
Der Historiker Aleksandr Kruglov schätzt die Zahl der in der Westukraine im Juni/Juli 1941 ermordeten Juden auf 16.000. Nach anfänglicher Euphorie rückten die ukrainischen Nationalisten nach der deutschen Besetzung ihres Landes von den vermeintlichen Nazi-Verbündeten ab. Erst im Frühjahr 1944 setzte laut Jilge wieder eine Kooperation zwischen UPA und Wehrmacht ein. UPA-Einheiten sollen bis zu 2000 Juden getötet haben.
Fakt bleibt, dass die deutsche Wehrmacht und die verschiedenen Sondereinsatzkommandos des Dritten Reichs mehr als 1,5 Millionen jüdische UkrainerInnern ermordeten. Die mitmordenden Ukrainer beteiligten sich am Holocaust, wie auch rumänische und ungarische Verbündete der Nazis. Die »Denker«, die Planer und die Realisatoren der »Endlösung« waren aber Deutsche, rückt der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder die Verantwortlichkeiten zurecht.
Als ein Verbrechen in Eigenregie gilt die »ethnische Säuberung« Wolhyniens 1943 im Länderdreieck Polen, Weißrussland und Ukraine. Die ukrainische Untergrundarmee UPA terrorisierte die in dieser Region lebende polnische Bevölkerung mit dem Ziel, sie zu vertreiben. Wolhynien beanspruchte die UPA für den angestrebten ukrainischen Nationalstaat. Die Ukrainische Aufstandsarmee UPA ermordete zwischen 60.000 und 100.000 polnische WolhynierInnen. Der Vergeltung der polnischen Heimatarmee fielen bis zu 20.000 UkrainerInnen zum Opfer: Bloodlands.
Für den polnischen Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe ist der ukrainische Faschist Bandera zwar kein Mörder, aber er wollte einen ethnisch homogenen Staat. Mit all seinen mörderischen Folgen, führt Rossoliński-Liebe aus: »Der Plan war, Juden, Polen und Russen teilweise zum Verlassen der ukrainischen Gebiete zu zwingen, teilweise zu ermorden.« Verbrechen, für die Bandera verantwortlich ist. Zurecht zeichnet Rossoliński-Liebe Bandera als Faschisten, beschreibt die militärischen Aktionen der UPA als das, was sie waren: Kriegsverbrechen.
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