In den letzten Monaten und Jahren bin ich — in wissenschaftlichen Texten oder auch in Tweets wie diesem — gefühlt immer häufiger auf den Begriff der »minorisierten Sprache« gestoßen. Ganz vordergründig räumt er mit dem Missverständnis auf, dass Minderheitensprachen nur von zahlenmäßigen Minderheiten gesprochen werden — was wir auch in Südtirol kennen, wenn bisweilen behauptet wird, die Italienerinnen seien hier die eigentliche (weil eben zahlenmäßige) Minderheit. Viel mehr als um Zahlen geht es bei der Minorisierung aber um Dinge wie Rechte oder Macht (vgl. 01
).
Im Umkehrschluss kann eine Sprache, die von einer numerischen Minderheit gesprochen wird, sogar die dominante sein.
Weiteren Aufschluss über den Minorisierungsbegriff gibt zum Beispiel der englischsprachige Wikipedia–Eintrag, der auch gut mit Quellen belegt ist.
Darin wird festgestellt, dass die Minorisierung vom Wunsch der Nationen herrührt, eine einheitliche Wirtschafts– und Regierungssprache zu etablieren, zur Herstellung von Homogenität oder aus ideologischen Gründen.
Typischerweise seien minorisierte im Unterschied zu dominanten Sprachen von manchen Anwendungsbereichen ausgeschlossen. Dies war in Südtirol für Deutsch schon immer der Fall, wenn wir an wesentliche Bereiche wie Produktetikettierung, Packungsbeilagen, staatliche Behörden (insbesondere Gerichtsbarkeit und Polizei) denken, ist aber zudem im Wachsen begriffen, wenn Deutsch im digitalen Bereich häufig ganz wegfällt oder oft sogar beim Einkaufen vor Ort keine Option mehr ist (01
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), um nur zwei Beispiele zu nennen.
Ein guter Indikator für die Minorisierung ist darüber hinaus wohl auch die offizielle Statistik zur Verweigerung des Rechts auf Gebrauch der Muttersprache, derzufolge Deutsch und Ladinisch drastisch höhere Werte aufweisen als Italienisch. Und da sind Bereiche, in denen Deutsch und Ladinisch gar nicht vorgesehen sind, natürlich nicht einmal enthalten.
Eine weitere Eigenschaft minorisierter Sprachen ist einseitige Zweisprachigkeit, wobei Sprecherinnen der Minderheitensprache häufiger oder besser die Mehrheitssprache lernen als umgekehrt (vgl. 01
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). Was auch selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass die Minderheitensprache ja in manchen Bereichen gar nicht einsetzbar ist — und zudem psychologische Mechanismen wirken, die es erschweren, Sprecherinnen der Mehrheitssprache mit der Minderheitensprache zu konfrontieren.
Dadurch werden die, die eine Minderheitensprache sprechen, quasi zu einer Teilmenge derer, die die Mehrheitssprache sprechen. In Südtirol: Nahezu alle, die Deutsch sprechen, beherrschen Italienisch, umgekehrt trifft das nicht zu.
Mehrere Wissenschafterinnen argumentieren, dass es eine »westliche Sprachideologie« gebe, die den Sozialdarwinismus auf Sprachen anwende und außerdem Nichtstandardvarianten verachte (vgl. 01
), woraus Sprachhierarchien entstehen. Konkret werden Großbritannien, Frankreich und Italien als Beispiele für Staaten genannt, in denen diese Ideologie zur Ersetzung von Minderheitensprachen durch die Staatssprache geführt hat.
»Liberale« Kritik an sprachpolitischen Maßnahmen erliege häufig dem Trugschluss, (asymmetrische) Maßnahmen zugunsten von Minderheitensprachen so aufzufassen, als seien sie nicht von jenen unterscheidbar, die die Minorisierung herbeigeführt haben — nur eben mit umgekehrten Vorzeichen (vgl. 01
). Diesen Punkt kann man wohl kaum genug unterstreichen, denn gerade in Südtirol scheinen mir einseitige Maßnahmen zum Schutz der Minderheitensprachen, wie sie andernorts selbstverständlich sind (01
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), besonders verpönt zu sein. Kaum etwas ist aber ungerechter und auch ineffektiver (ja kontraproduktiv), als Ungleiches gleich zu behandeln. Dieses Missverständnis geht so weit, dass das Land Südtirol als Minderheitenregion in Italien aktiv italienische Sprach- und Kulturpolitik betreibt. Mir ist Analoges aus keinem anderen Minderheitengebiet bekannt.
Doch was wundere ich mich: Hierzulande kritisieren Liberale nicht nur asymmetrische, sondern sogar symmetrische Schutzmechanismen.
Cëla enghe: 01
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