In dem bereits von Wolfgang Mayr kommentierten TAZ-Interview zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine behauptet die Landtagsabgeordnete Ulli Mair (F), in dem osteuropäischen Land sei die russische Sprache verboten worden. Sie ist mit dieser Auffassung nicht alleine, doch sie liegt damit falsch — und wer diese Lüge verbreitet, macht sich gewollt oder ungewollt zum Sprachrohr der Putin’schen Propaganda.
Russisch ist die Muttersprache eines erheblichen Teils der Ukrainerinnen, vor allem im Ostteil des Landes, aber zum Beispiel auch in der Hauptstadt Kyjiw. Obwohl die Sprache rechtlich nicht mit Ukrainisch gleichgestellt ist, ist sie keineswegs verboten. Es gibt eine äußerst rege und völlig legale russische Sprach- und Kulturlandschaft im ganzen Land. Russisch ist außerdem unter anderem die Muttersprache des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und des Kyjiwer Bürgermeisters Vitali Klitschko. Beide sprechen Russisch deutlich besser als Ukrainisch und wurden trotzdem von Bürgerinnen beider Zungen gewählt und anerkannt.
Nach westlichen Maßstäben genießt die russische Sprache in der Ukraine keinen ausdrücklichen, vollwertigen Minderheitenschutz, Autonomierechte für bestimmte Regionen (nicht aber zum Beispiel für die Krim vor der russischen Annexion) wurden bislang verweigert.
Diese Tatsachen (und selbst Maßnahmen zur Einschränkung der russischen Sprache in der Ukraine) sind aber nach meinem Dafürhalten äußerst vorsichtig und differenziert zu betrachten:
- Erstens, weil Moskau die sprachliche Dimension seit dem Zerfall der Sowjetunion immer wieder bewusst dazu missbraucht hat, um aggressiv eigene Propaganda in den angrenzenden Staaten zu platzieren, sie zu destabilisieren und sich auch massivst — nichtmilitärisch und militärisch — in innere Angelegenheiten einzumischen. Russland geht es dabei weniger um Minderheitenschutz als um die Durchsetzung eigener geostrategischer Interessen.
- Zweitens, weil die ukrainische Sprache zwar Staatssprache ist, historisch jedoch konstant benachteiligt und unterdrückt wurde bzw. unter starkem Druck des Russischen stand. Obschon sie heute (offiziellen Statistiken zufolge) von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen wird, hat sie nach wie vor Charakterzüge einer Minderheitensprache, die sie ja lange Zeit auch tatsächlich war. Ähnlich wie — natürlich nicht eins zu eins vergleichbar — auch die irische Sprache heute Staatssprache in Irland ist, aber trotzdem besonderer Schutz- und Revitalisierungsmaßnahmen (affirmative action) bedarf.
Russisch ist in dieser Hinsicht auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion eher mit der weltweiten Lingua franca Englisch (die manchmal auch als »Killersprache« bezeichnet wird) zu vergleichen als mit einer klassischen Minderheitensprache. Ob sie tatsächlich aktiven Schutz benötigt, darf zumindest in Frage gestellt werden.
Wichtig wäre mittelfristig — zumindest im Ostteil der Ukraine und in der Hauptstadt — sicherlich ein ganz oder teilweise gleichgestellter Status der russischen Sprache als Amtssprache, den es seit 2012 teilweise schon wieder gab, sowie die Aufhebung von ausdrücklichen Einschränkungen, die allerdings nach (und wegen) der Annexion der Krim eingeführt wurden.
Neben der russischen existieren hingegen mehrere andere, kleinere Sprachgemeinschaften in der Ukraine, die tatsächlich eines ausdrücklichen Minderheitenschutzes bedürfen und (in noch unzureichendem Maße) genießen.
Immerhin hat jedoch die Ukraine (anders als Russland1aber auch anders als Italien oder Frankreich) die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ratifiziert und unterzieht sich folglich regelmäßig der einschlägigen Evaluierung und Beratung durch Expertinnen des Europarats.
Nicht zu vergessen ist abschließend, dass wir hier Maßstäbe ansetzen, die zwar möglichst überall gelten sollten, aber selbst in sogenannten westlichen Demokratien alles andere als selbstverständlich sind.
Und vor allem, dass auch wenn all das, was ich hier ausgeführt habe, falsch (und Russisch in der Ukraine tatsächlich verboten) wäre, dies den brutalen russischen Überfall in keinster Weise rechtfertigen würde.
- 1aber auch anders als Italien oder Frankreich
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