von Olaf Borghi*
Ich wage mich in den letzten Tagen kaum mehr, Kommentare auf Facebook oder anderen Social-Media-Plattformen zu lesen. Nicht, dass das früher eine Wohltat war. Doch in Coronazeiten scheinen sich auch andere vergangene Pathologien stärker auszuprägen.
Denn das klassische Bild, das sich dort zeigt, ist ein Grabenkampf zwischen der sogenannten Gruppe der Verschwörungstheoretiker und der Gruppe der rational-übergeordneten Menschen. Die einen fordern die anderen dazu auf, beide Augen zu öffnen. Manche der anderen wiederum versehen jeden Denkanstoß, der nicht der offiziellen Linie folgt, als Verschwörungsblödgeschwurbel.
Bevor ein konstruktiver Kommentar geteilt wird, überlegt sich in diesen Zeiten so mancher doch, ob es nicht geschickter wäre, ihn sich nur still zu denken. Zu schnell läuft man Gefahr, nicht einen Diskurs anzuregen, sondern bloß dem einen oder dem anderen Lager zugeordnet zu werden, wodurch jeder weitere Kommentar automatisch von einer Gruppe diskreditiert wird.
Die einzige Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist eine Frontenbildung, die jeglichen konstruktiven Diskurs verhindert.
Die dritte Gruppe, die sich zwischen den zwei Fronten bewegt und die einen rational-konstruktiven Zugang sucht, geht dabei unter.
So wäre es manchmal durchaus legitim, das zu hinterfragen und zu diskutieren, was von offizieller Seite kommt.
Viele wurden von der Krise vergessen. Kinder, die sozial isoliert und eingesperrt wurden. Psychisch Kranke, die ohnehin oft schon zu wenig Platz in unserer Gesellschaft finden. Eltern, vor allem Mütter, die zwischen Beruf und Kinderaufsicht in eine Frauenrolle des 19 Jahrhunderts zurückgedrängt wurden. Kleinunternehmer und Selbstständige, die verzweifelt auf Hilfe warten. Überforderte Pflegekräfte. Eine beinahe endlose Liste.
Der Protest in dieser Situation richtet sich vielerorts aber nicht gegen schlechtes Krisenhandling, oder etwa dagegen, dass die Zeit im notwendigen Lockdown zu schlecht genutzt wurde, um einen umfassenden Plan für die Zeit danach zu erstellen.
Stattdessen wird demonstriert gegen Bill und Melinda Gates, gegen internationale Adrenochromnetzwerke oder Impfungen, die uns einen Chip einpflanzen oder uns alle zu Autisten machen wollen, die dann wiederum in derartigen Krisen alleine gelassen werden.
Das große Problem ist dabei nicht, dass diese Menschen das Recht der Meinungsfreiheit umsetzen oder ihre Grundrechte zurückfordern. Das ist in einem gewissen Rahmen ja durchaus legitim.
Das große Problem ist, das genau diejenigen, die allen anderen vorwerfen, auf einem Auge blind zu sein, da sie die Scheinkausalitäten in ihren abstrusen Theorien nicht erkennen wollen, selber oft auf dem anderen Auge blind sind.
Das andere große Problem ist, dass diese Verschwörungstheoretiker*innen oft auch reale Probleme aufgreifen, diese allerdings so verzerren, dass auch hier wieder ein konstruktiver Diskurs verhindert wird.
So kann man durchaus über die Inhaltsstoffe von Impfungen diskutieren oder darauf achten, dass genaueste Forschungsstandards eingehalten werden. Dann sollte man allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass Impfstoffe sehr wohl einiges dazu beigetragen haben, dass die Lebenserwartung von Menschen stetig steigt und sich auch in der Impfstoffentwicklung in den letzten Jahren einiges getan hat (das vermeintliche Quecksilber ist z.B. schon seit Jahren nicht mehr in geläufigen Impfstoffen als Konservierungsmittel enthalten, siehe “Quecksilber in Impfungen?”).
Auch der Zusammenhang zwischen Impfungen und diversen erb- oder umweltbedingten Krankheiten kann recht schnell eliminiert werden, wenn wir beide Augen öffnen. So werden im 21. Jahrhundert große Teile der Bevölkerung geimpft. Ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung erkrankt auch noch an anderen Krankheiten. An diesen Krankheiten erkrankten Menschen aber auch schon, bevor es Impfungen gab. Eine gottgegebene Kausalität anzunehmen ist fern von jeglicher Logik. Das bedeutet allerdings nicht, dass überzufällig auftretende Krankheitscluster schlichtweg ignoriert werden sollen. Sollten derartige Cluster auftreten, so sollten sie dennoch untersucht werden. Eine Kausalität konnte allerdings nicht gefunden werden. Genauso, wie bisher kein kausaler Zusammenhang zwischen der Anzahl an Menschen, die in Swimmingpools ertrinken, und der Anzahl an Filmen, in denen Nicolas Cage erscheint, angenommen werden kann (tatsächlich korrelieren beide Phänomene, siehe Scheinkorrelationen).
Man kann durchaus auch über die Rolle der Superreichen in unserer Gesellschaft diskutieren, ja vielleicht sogar darüber, ob es so etwas wie Superreiche überhaupt braucht. Es lohnt sich dabei auch auf die Interessen zu achten, die hinter Investitionen oder Meinungen stehen.
So stimmt es durchaus, dass Bill Gates Milliarden in die Entwicklung von Impfstoffen steckt. Ihm dabei aber gleichzeitig zu unterstellen, dass sein Interesse dahinter ist, möglichst vielen Menschen Impfstoffe zu verkaufen um möglichst viel Geld mit Impfungen zu verdienen, er dann aber wiederum die Menschheit auf 500 Millionen dezimieren will, um sich selbst seines Absatzmarktes zu berauben, erscheint zumindest mir etwas widersprüchlich.
Auch mögliche Interessen hinter der Verbreitung derartiger Theorien werden schnell hinter einer Augenklappe versteckt. So wurden Verschwörungstheorien schon seit dem 18. Jahrhundert zum Zwecke politischer Propaganda eingesetzt (z.B. wenn Trump China beschuldigt, das Virus bewusst in die Welt gesetzt zu haben, siehe “Das Virus als Propagandawaffe” und “Interessen hinter Verschwörungstheorien”).
In eine Zwickmühle geraten ist in dieser Frontenbildung auch die Wissenschaft. So sollte sie eigentlich dazu dienen, Verschwörungstheorien und Unsicherheit zu entkräften und eine Vermittlerrolle einnehmen. Doch in den letzten Monaten verbreitete sich bei vielen Menschen eher eine Wissenschaftsskepsis. Diese stammt allerdings nicht daher, dass die Wissenschaft besonders viele Fehler in der letzten Zeit produziert hat. Es mangelt eher am Verständnis, dass Wissenschaft, oder das, was wir darunter verstehen, ein offener Prozess ist, in dem einzelne Forschungsergebnisse für sich noch kaum Bedeutung tragen. Werden solch frühe Ergebnisse von den Medien und der Öffentlichkeit fälschlicherweise als große Durchbrüche rezipiert, so ist die Enttäuschung groß, wenn eine Woche darauf, innerhalb des Wissenschaftsprozesses, ein gänzlich anderes Ergebnis gefunden wird. Erst durch das Big-Picture vieler Forschungen lassen sich abgesicherte Aussagen treffen (siehe hierzu auch “Why Most Published Research Findings Are False”).
Um die Zukunft besser zu gestalten, sollten wir daher lernen, statt auf Frontenbildung, auf Diskurs zu setzen. Statt schnell Beiträge zu teilen, sollten wir reflektieren, was dahinterstecken könnte. Statt Fehler zu vertuschen, sollten wir mit diesen offen umgehen und sie diskutieren. Statt auf einem Auge blind zu sein, sollten wir lernen, innerhalb der Grenzen unserer menschlichen Erkenntnis, möglichst mit beiden Augen zu sehen und zu reflektieren, welche Bedeutung die Sicht auf manche Dinge mit nur einem Auge hat.
Richte ich den Blick in die Zukunft, so sehe ich einige Herausforderungen, die auf unsere Spezies zukommen werden. Von der Arbeitslosigkeit nach und während Corona bis zur Klimakrise, die sich schon lange als Generationenaufgabe herauskristallisierte. Einiges muss sich ändern, wenn wir diese Aufgaben gemeinsam lösen wollen. Entwicklung ist nicht auf einen besseren oder schlechteren Zustand hin gerichtet, denn es ist unsere menschliche Aufgabe, unsere Entwicklung auszurichten.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf Salto erschienen.
*) Olaf Borghi stammt aus dem Vinschgau, studiert Psychologie in Wien und lebt in Meran und Wien
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