Erstickt in Polen die Demokratie den Rechtsstaat, so drückt im Streit zwischen Madrid und Barcelona der Rechtsstaat der Demokratie den Atem ab.
Ministerpräsident Mariano Rajoy ist kastilischer Unitarist und bekämpft die katalanische Autonomie seit langem. Er hat dafür das Verfassungsgericht in Stellung gebracht, das 2010 das 2006 ausgehandelte und in einer Volksabstimmung überwältigend gebilligte Autonomiestatut Kataloniens in wesentlichen Teilen aufhob und damit die bis heute andauernde Eskalation auslöste. Es hat auf eine demokratische Grundbewegung mit dem Verweis auf die Verfassung reagiert und dabei das Wichtigste übersehen: Dass jede Rechtslage die Rechtsauffassung des Volkes reflektiert und dass, wenn namhafte Teile des Volkes ihre Rechtsauffassung ändern, der formale Verweis auf ein Stück Papier nicht ausreicht, um dieser Dynamik entgegenzutreten. Wenn der Verfassungskonsens zerbricht, hilft kein Verweis auf die Verfassung. Eine anhaltende, konsistente Massenbewegung lässt sich nicht schlichtweg für illegal erklären.
Hier wird eine Volksbewegung mit formalen Richtersprüchen und Gefängnis erstickt. Aus Brüssel ist zu alledem nichts zu hören. Wie passt das zusammen: Gegen Polen die „nukleare Option“, gegen Madrid duldendes Stillschweigen?
Vor dem Unabhängigkeitsreferendum der Schotten erklärte der damalige Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso im Februar 2014, Schottland in die EU aufzunehmen werde extrem schwierig, wenn nicht unmöglich. Schottland werde das Aufnahmeverfahren durchlaufen und die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erhalten müssen. Schottland ist eine Nation mit eigener Gerichtsbarkeit und eigenem Bildungswesen. Es hat bewiesen, dass es Werte und Verfahren der EU aus tiefster Überzeugung hochhält. Schottland hat am 23. Juni 2016 gegen den Austritt aus der EU gestimmt. Und nun soll es aus einer Gemeinschaft ausgestoßen werden, der es in vorbildlicher Weise über 40 Jahre lang angehört hat, bloß weil es von seinem demokratischen Urrecht, der Selbstbestimmung, Gebrauch macht?
1990 geschah das Umgekehrte: Die DDR trat der Bundesrepublik Deutschland bei – sozusagen eine rückgespulte Sezession. Damit erhielt die frühere DDR als Teil eines EU-Mitglieds sofort volle Mitgliedschaft in der EU. Das war richtig und notwendig. Die DDR hatte 40 Jahre lang eine Politik betrieben, die den Werten der EU diametral entgegengesetzt war. Wieso nimmt die Wertegemeinschaft EU 1990 ein Gebiet auf, das 40 Jahre lang eben diese Werte bekämpft hat, und droht 2014 einem Gebiet, das sich 40 Jahre lang als treuer und verlässlicher Teil dieser Wertegemeinschaft erwiesen hat, es wie einen neuen Kandidaten zu behandeln, in einer Gruppe mit Albanien und Mazedonien?
Rudolf Adam, ‘Wie die Wertegemeinschaft ihre Glaubwürdigkeit verliert’ auf Cicero.de (29.01.2018). Adam war Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes und Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
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