Es sei vorausgeschickt, dass
- ich nicht der Meinung bin, dass die Katalanen in ihrem Bestreben in Richtung Unabhängigkeit immer alles richtig gemacht haben;
- man die Unabhängigkeitsbestrebungen durchaus überflüssig wie einen Kropf finden kann;
- sogar die Ablehnung des Referendums wegen Rechtswidrigkeit eine legitime Sicht der Dinge ist, die ich als Demokrat zwar nicht verstehe, aber akzeptiere.
Des Weiteren sei angemerkt, dass
- ich nicht verstehe, wie bereits die Abhaltung eines Referendums gegen die Verfassung verstoßen kann, da die Abstimmung allein ja nicht jener Akt ist, der die „Unteilbarkeit“ Spaniens angreift;
- ein entsprechendes Referendum ja durchaus auch mit „Nein“ ausgehen könnte und somit erst recht nicht zu einer „verbotenen“ Teilung Spaniens führen würde;
- ein Verbot des Referendums heißt, dass man bezüglich der Zugehörigkeit Kataloniens zum spanischen Staat keine divergierende Meinung haben darf, was eine grobe Missachtung der demokratischen Meinungsfreiheit darstellt; eine Meinung wohlgemerkt, die nicht im geringsten irgendwelche Grundrechte antastet oder irgendwie menschenverachtend wäre und somit keiner Sanktionierung bedarf;
- sich die Frage stellt, wie rechtstreu eine demokratische Gesellschaft angesichts undemokratischen Rechts sein muss und ob das universelle Recht der Meinungsfreiheit nicht über einem eben diese Meinungsfreiheit verbietenden Verfassungsartikel steht;
- man in dieser Angelegenheit wohl zwischen Recht und Gesetz unterscheiden muss und die bedingungslose Durchsetzung des Rechtsstaates zwar gesetzeskonform (was sie im Falle der Guardia Civil in Katalonien nicht war), aber nicht rechtens ist. Oder wie es ein Kommentator auf FAZ.net treffend formuliert:
Es mag sein, dass das, was die Katalonen (sic) machen, gegen spanische Gesetze verstößt – wie sollte es im Übrigen anders sein, wenn genau die Unabhängigkeit von eben diesen Gesetzen angestrebt wird? Ein Rechtsstaat aber liegt nicht dann vor, wenn moralisch falsche Gesetze in Kadavergehorsam ausgeführt werden (mit dieser Argumentation wäre das Dritte Reich auch ein Rechtsstaat gewesen oder, um nicht die Keule zu schwingen, die Niederschlagung der Revolution nach 1848 durch Preußen rechtens), sondern wenn der Staat das Recht schützt, das über den Gesetzen steht. Zu diesem vorpositiven Recht gehören die Menschenrechte ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
– Dr. Karsten Jung auf FAZ.net
Das alles tut aber eigentlich nichts zur Sache, denn gestern ist etwas viel Schwerwiegenderes passiert. Dramatisch ausgedrückt wurde eine relativ junge europäische Demokratie zu Grabe getragen und das europäische Projekt von Freiheit und Demokratie nachhaltig geschädigt, wenn nicht zerstört – aber nicht von den Katalanen. Dass viele Medien und Politiker nun auch noch beiden Seiten das gleiche Maß an Schuld an der Eskalation geben oder gar – wie Reinhard Veser in der FAZ – schreiben, dass Spanien das Richtige getan habe, schlägt dem Fass den Boden aus. Ursache und Wirkung werden vertauscht, indem den Katalanen Umstände vorgeworfen werden, die das Resultat der spanischen Aggression sind.
So schrieb beispielsweise Martin Schulz auf Twitter:
Die Eskalation in Spanien ist besorgniserregend. Madrid und Barcelona müssen sofort deeskalieren und den Dialog suchen.
— Martin Schulz (@MartinSchulz) October 1, 2017
Mehr Deeskalation als sich mit erhobenen Händen niederprügeln zu lassen geht wohl kaum. Lediglich ein Verzicht auf Grundrechte wäre vielleicht deeskalierender. Aber ein solcher kommt für Millionen Katalanen offenbar nicht in Frage.
Auch die Wortwahl in den Medien mutete mitunter befremdlich an. So war vielfach von „Ausschreitungen“ und „Zusammenstößen“ die Rede. Es mag einige wenige kleinere Scharmützel gegeben haben, aber der Großteil der Gewalt war – soweit man das angesichts der Berichte beurteilen kann – einseitige Aggression der Guardia Civil, die Frauen, Senioren und Feuerwehrleute attackierte. Auch die mehrfach geäußerte Behauptung, dass Spanien gegen Separatisten und Unabhängigkeitsbefürworter vorging, ist falsch. Rund 200.000 Menschen haben gegen eine Abspaltung von Spanien gestimmt. Die Guardia Civil ging gegen Abstimmungsbefürworter vor und hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch Menschen verletzt, die für einen Verbleib Kataloniens bei Spanien sind.
Auch der folgende Satz, der offenbar aus einer Agenturmeldung stammt, da er genau in dieser Form von Dutzenden Zeitungen und Online-Plattformen wiedergegeben wurde, unterstreicht den Hang zu eigenartigen Schlussfolgerungen:
Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben der Regionalregierung nur bei rund 42 Prozent. In diesem Wert dürfte zum Ausdruck kommen, wie tief Katalonien in der Frage der Unabhängigkeit gespalten ist.
Ganz so, also ob die Tatsache, dass die Wählerinnen und Wähler um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten mussten, überhaupt keinen Einfluss auf die Beteiligung gehabt hätte. Wer damit rechnen muss, mit Gummigeschossen und Schlagstöcken attackiert zu werden, überlegt es sich – bei allem Idealismus – wohl zweimal, ob er/sie sich und seine/ihre Familie in Gefahr bringt. Zudem wurden ja tausende bereits abgegebene Wahlzettel konfisziert. Laut Umfragen sind nämlich rund 80 Prozent der Bevölkerung Kataloniens für die Abhaltung eines Referendums. Überdies werden die Separatisten oft auch als katalanische Nationalisten bezeichnet, wobei das von ihnen propagierte Gesellschaftsmodell (Katalane ist, wer in Katalonien lebt und arbeitet) das Gegenteil eines Nationalismus im klassischen Sinne ist.
Derartige suggestive Unschärfe zieht sich wie ein roter Faden durch einen großen Teil der medialen Berichterstattung und politischen Analysen.
Exemplarisch kommentiere ich einige Passagen aus dem Spiegel-Kommentar „Sucht endlich den Kompromiss!“ von Claus Hecking und dem FAZ-Kommentar „Warum Spanien das Richtige tut“ (der eigentlich keines Kommentares würdig ist) von Reinhard Veser:
Mit seinem konsequenten Vorgehen in Katalonien beweist Spanien, dass es ein Rechtsstaat ist.
Dieser Satz ist angesichts der massenhaften, massiven und auf Videos dokumentierten Menschenrechtsverletzungen durch die paramilitärische Guardia Civil ein Hohn.
In dieser Konfrontation ist die spanische Regierung im Recht.
Wie oben bemerkt, mag sie vielleicht das Gesetz auf ihrer Seite haben (was die Sache an sich, nicht aber die Art und Weise der Niederschlagung betrifft), jedoch ist es ein Gesetz, das Grundrechte verbietet. Nach der Logik dieser Art von Gesetzestreue hätten wir heute noch immer kein Frauenwahlrecht und in Südafrika Apartheid. Zudem wurde von der spanischen Regierung einmal mehr die politische Dimension von Demokratie völlig ausgeblendet, indem durch Dialogverweigerung die Angelegenheit verjudiziert wurde.
Noch mit dem Polizeieinsatz am Tag des Referendums hat er [Anm.: Rajoy] der von den Separatisten verbreiteten Mär Nahrung gegeben, Spanien sei ein autoritärer Staat in der Tradition des Diktators Franco.
Diese Mär ist nicht so weit hergeholt. Rajoys Partei „Partido Popular“ (vormals Alianza Popular) wurde von Franquisten (u.a. Manuel Fraga Iribarne) gegründet. Und die paramilitärische Guardia Civil, die gestern friedliche, unbewaffnete EU-Bürger niederknüppelte und – laut Rajoy – somit die Demokratie, den Rechtsstaat und die Verfassung verteidigte, ist jene Einheit, die maßgeblich an der Machtergreifung Francos beteiligt war, unter ihm über Jahrzehnte die Zivilbevölkerung terrorisierte und nach Einführung der Demokratie gegen diese im Februar 1981 einen Putschversuch unternahm, der Dank des beherzten Vorgehens von König Juan Carlos I. scheiterte.
In Spanien gibt es keine Instanz, die als Vermittler auftreten kann – und auch die EU kann das nicht tun. Sie kann und sollte nichts anderes tun, als der spanischen Regierung den Rücken zu stärken, da diese auf der Seite des Rechtsstaats steht. Alles andere wäre nicht nur eine Aufwertung von notorischen Rechtsbrechern – es würde auch ihre Glaubwürdigkeit in den Konflikten mit den Regierungen in Warschau, Budapest und Bukarest schwächen.
Vesers Beitrag ist nicht als Satire gekennzeichnet. Daher ist obiger Satz in aller Tatsächlichkeit ernst gemeint. In Katalonien ist es gestern zu schwersten Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen gekommen. Menschenrechtsverletzungen, die die EU für gewöhnlich – gerade in Warschau, Budapest und Bukarest, aber auch anderswo – aufs Schärfste verurteilt. Tut sie das in diesem Fall nicht (und sie hat es bislang nicht getan), verliert sie dadurch ihre Glaubwürdigkeit und nicht durch die „Aufwertung notorischer Rechtsbrecher“. Denn wenn schon (wenn man Vesers Logik folgt), hätte Spanien die katalanischen Politiker verhaften müssen, die das Referendum genehmigt haben. Stattdessen hat man auf Menschen eingeschlagen, die nichts Gesetzeswidriges getan haben, denn die Wenigsten wurden direkt bei der Stimmabgabe misshandelt. Und selbst wenn sie „inflagranti“ ertappt worden wären, wäre die massive Gewalt nicht gerechtfertigt gewesen.
Claus Heckings Artikel im Spiegel ist zwar etwas weniger hanebüchen, aber dennoch von einer erstaunlichen Undifferenziertheit geprägt.
Vermummte Uniformierte, die Wahlhelfern die Urnen entreißen. Menschen mit blutüberströmten Gesichtern und Wunden von Gummigeschossen, die bloß friedlich abstimmen wollten. Es sind hässliche Szenen, die aus Katalonien um die Welt gehen. […] Sie sind das Ergebnis einer Eskalation, die verantwortungslose Politiker auf beiden Seiten geschehen ließen. Allen voran die Chefs: der Katalane Carles Puigdemont und Spaniens Mariano Rajoy.
Das klingt so, als hätten Puigdemont und die katalanische Bevölkerung Spanien gezwungen, so zu reagieren. Beide Seiten trifft Schuld an den verhärteten Fronten – ob in gleichem Maße sei dahingestellt (meiner Meinung nach nicht). Aber an der Eskalation mit für eine Demokratie undenkbaren Gewaltexzessen trägt nur eine Seite Schuld: der spanische Staat und die Regierung Rajoy. Allein die Tatsache, dass die katalanischen Wählerinnen und Wähler die Prügel und Misshandlungen großmehrheitlich ohne gewalttätigen Widerstand – zum Teil mit erhobenen Händen – über sich ergehen haben lassen, zeugt von einer beeindruckenden Entschlossenheit, Reife und Souveränität, die keinen Zweifel an ihrer moralischen Überlegenheit in dieser Situation aufkommen lässt. Ein herausragendes Beispiel von Civil Disobedience.
Anstatt ernsthaft den Dialog miteinander zu suchen – in Demokratien der wichtigste Job jedes Politikers – haben beide auf Konfrontation geschaltet.
Seit Jahren haben katalanische Regierungschefs ein Gesprächsangebot nach dem anderen nach Madrid geschickt. Schon Puigdemonts Vorgänger Mas forderte von der Zentralregierung mehrmals einen ergebnisoffenen Dialog ein und wurde nahezu immer enttäuscht. Puigdemont erging es ähnlich.
Puigdemont und seine Einflüsterer haben zuerst ein fragwürdiges Gesetz für das Plebiszit durch das katalanische Parlament gepeitscht:
Das Gesetz ist eine Reaktion auf die Verjudizierung Rajoys. Und fragwürdig ist es nur deshalb, weil die Katalanen laut spanischem Verfassungsgericht gar keine Möglichkeit haben, demokratisch und legal über ihren eigenen Status zu befinden, selbst wenn das 100 Prozent der katalanischen Bevölkerung wollten.
Allein mit der Mehrheit ihrer eigenen Mandate – die sie nur dem merkwürdigen katalanischen Wahlrecht verdanken. Denn gewählt hatten diese Regierung nicht mal 48 Prozent der Katalanen.
So merkwürdig ist das nicht, dass man mit knapp unter 50 Prozent der Stimmen dennoch eine Mandatsmehrheit im Parlament erreichen kann. Gibt es in anderen Ländern auch. Dem Referendum somit indirekt die Legitimation abzusprechen, weil es „nur“ von einer knappen Parlamentsmehrheit initiiert wurde, ist eigenartig. Generell sind die Hürden für Volksabstimmungen eher niedrig. In Italien kann beispielsweise ein Fünftel der Abgeordneten einer Kammer ein bestätigendes Referendum für ein Verfassungsgesetz einfordern.
Er riskiert, dass Katalonien aus der EU und dem Binnenmarkt fliegt – obwohl Hunderttausende Arbeitsplätze an Exporten in den Rest Spaniens und die Union hängen. Das ist, freundlich gesagt, abenteuerlich.
Da hat Heckings nicht ganz Unrecht. Wobei es aus demokratischer Sicht schon eigenartig ist, dass selbst wenn eine Sezession im Einvernehmen geschieht, der sich abspaltende Teil laut jüngster Aussendung der EU-Kommission automatisch aus der EU fliegen würde. Sämtliches EU-Recht in diesen Regionen ist umgesetzt, die Bewohner sind EU-Bürger und es kann doch in niemandes Interesse sein, dass so ein Staat ein langes Beitrittsverfahren durchlaufen muss. Wobei die EU-Kommission nicht die alleinige Deutungshoheit über diese Angelegenheiten hat und eine politische Lösung durchaus im Rahmen des Möglichen erscheint. Die automatische Aufnahme der ehemaligen DDR war so eine pragmatische politische Lösung.
Exkurs: Sollte sich Katalonien einseitig unabhängig erklären und Spanien dies nicht anerkennen, würden die Katalanen doch weiterhin EU-Bürger bleiben, da sie ja einen spanischen Pass hätten. Mit welchem Recht könnte ihnen Spanien diesen entziehen bzw. wenn sie ihn einziehen würden, würden sie ja die Unabhängigkeit Kataloniens anerkennen. Nur so ein Gedanke am Rande.
Der massive Einsatz von Polizeigewalt, das Traktieren von Wehrlosen mit Schlagstöcken, die Gummigeschosse – das war nicht nur überzogen. Es war unnötig.
Das war ein Verbrechen.
Denn keine halbwegs vernünftige Regierung in Europa hätte dieses Referendum anerkannt. Es war nicht nur verfassungswidrig, sondern verletzte auch diverse Prinzipien einer freien, geheimen, demokratischen Wahl. […] Noch vor der Abstimmung musste die katalanische Regierung zugeben, dass es nicht einmal genug Briefumschläge gab. Nun war das Referendum endgültig eine Farce. […] Warum hat Madrid nicht das Pseudo-Plebiszit laufen lassen, das sowieso ungültig war?
Das ist lustig. Die Katalanen wollten – und haben alles daran gesetzt – eine freie, geheime und demokratische Wahl zu organisieren, wurden aber mit Gewalt daran gehindert. Und dann wird ihr Referendum als Farce und Pseudo-Plebiszit bezeichnet?
Jetzt müssen sie zeigen, dass sie verantwortungsvolle Politiker sind. Und endlich den Kompromiss suchen: zum Beispiel mit einem neuen Autonomiestatut für Katalonien.
Dieses Autonomiestatut gibt es bereits. Es wurde aber vom PP-gesteuerten Verfassungsgericht (dessen Vorsitzender war PP-Mitglied) „einkassiert“.
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