Am 16. Mai habe ich gemeinsam mit dem JG-Vorsitzenden Stefan Premstaller (SVP) als Diskutant an der Politis-Veranstaltungsreihe »Welches Europa wollen wir?« teilgenommen. Thema des Abends war:
Katalonien, Schottland, Südtirol: Europas künftige neue Staaten? — Die Strahlkraft der Nationalstaaten und die Schwäche des »Europa der Regionen«
Ich gebe hier eine nachträglich redigierte Fassung meines stichwortartigen Impulses wieder:
Die Fragen, denen wir heute nachspüren, sind äußerst vielschichtig und kaum an einem Abend zu beleuchten, geschweige denn zu beantworten. Wenn wir von der Überwindung der Nationalstaaten sprechen, müssen wir uns zuerst bewusst machen, was »Nationalstaaten« überhaupt sind. Sie sind das Produkt einer »eindimensionalen« Definition: Es geht um die Fiktion, dass Menschen mit einer Sprache und Kultur in einem Staat zusammenleben. Vor allem (aber nicht nur) in Grenzregionen zeigen sich die Widersprüche dieser Fiktion sehr deutlich, speziell dann, wenn sich »nationale« Ansprüche — wie hier in Südtirol — überschneiden. Ein mehrsprachiges Land lässt sich nur mit Gewalt (im übertragenen oder im wörtlichen Sinne) in einen Nationalstaat integrieren. Unsere Autonomie ist ein Ergebnis dieser Widersprüche.
Von damaligen »Nationalisten« wurde die Habsburgermonarchie als »Völkerkerker« bezeichnet — die eigentlichen Völkerkerker sind jedoch die Nationalstaaten, und zwar für all das und all jene, die nicht dem »Einheitsbrei« entsprechen. Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse, der die Schaffung einer Europäischen Republik — und gerade keiner Vereinigten Staaten von Europa — fordert, hat am 21. März anlässlich “60 Jahre Römische Verträge” im Europäischen Parlament die Rede “Kritik der Europäischen Vernunft” gehalten, woraus ich diesbezüglich zwei Passagen zitieren möchte:
Die Gründerväter aber hatten vor sechzig Jahren die radikale Einsicht, dass der Nationalismus an der Wurzel besiegt werden muss, das heißt letztlich durch die schrittweise Überwindung der Nationalstaaten. Dieser Gedanke ist sehr wichtig, das ist es, was wir uns heute wieder in Erinnerung rufen müssen: Das “Friedensprojekt EU” ist im Kern ein Projekt zu Überwindung der Nationalstaaten. Nur “Friedensprojekt” zu sagen, klingt nett – und für viele bereits langweilig. Aber es ist augenblicklich wieder spannend, und wir verstehen auch sofort wieder die Widersprüche, die wir heute als “Krise” erleben, wenn wir daran denken: am Anfang stand die konkrete Utopie, die deklarierte Absicht: dauerhafter Friede durch die Überwindung der Nationalstaaten! […] Die Römischen Verträge sind die Geburtsurkunde der Europäischen Union. Und diese Union sollte ein Projekt zur Überwindung der Nationalstaaten sein – das kann man nicht oft genug sagen, denn es ist genau das, was die politischen Eliten Europas heute vergessen haben oder feige verschweigen.
Walter Hallstein, einer der geistigen Väter der Römischen Verträge, sagte in seiner römischen Rede: “Was immer wir in den neu geschaffenen europäischen Institutionen beschließen und durch zusetzen versuchen, Ziel ist und bleibt die Organisation eines nachnationalen Europas.” Wie groß die gegenwärtige Krise, der Backlash ist, ist schon daran zu ermessen: Können Sie sich einen deutschen Spitzenpolitiker, einen einzigen, vorstellen, der diesen Satz des Deutschen Walter Hallstein heute zu sagen wagte? Können Sie sich irgendeinen europäischen Staats- oder Regierungschef vorstellen, der diesem Satz zustimmen würde? Na eben. Sie alle werden sagen: das sei doch verrückt, das sei eine Spinnerei.
Menasse erinnert daran und ruft die EU-Parlamentarierinnen dazu auf, die Römischen Verträge nicht nur zu feiern, sondern sie auch wiederzuentdecken, ernstzunehmen — umzusetzen. Denn es sei fünf vor zwölf.
Derselbe Menasse hat im April 2013 nach einem Auftritt in Bozen bei einem kurzen Gespräch folgendes gesagt:
Was in Katalonien und Schottland passiert, ist nicht neuer Nationalismus, sondern der Anfang seiner Überwindung. Die Basken haben kein Interesse, andere Regionen zu erobern, aber Spanien hat ein Interesse, die Basken zu beherrschen.
Die EU hat sich heute zu etwas entwickelt, was sie laut ihren Gründervätern nie hätte sein sollen: sie wird von den Nationalstaaten in Geiselhaft gehalten und hat unter diesen Voraussetzungen nur die Funktion, deren Tod zu verschleppen — indem sie sie durch Union fit macht für eine Welt, in der sie allein bedeutungslos wären. Damit dient sie heute also dem Gegenteil des Zwecks, für den sie geschaffen wurde.
Sie fördert aber gleichzeitig — weil sie den Nationalismus nicht endgültig bezwingen wollte und will — einen neuen Nationalismus, den Nationalismus der Nigel Farages, der Le Pens, der Salvinis, der Straches und der AfD. Wenn selbst die EU an der nationalstaatlichen Fiktion festhält, fällt es schwerer, den Menschen zu erklären, warum sie dem Nationalismus abschwören sollten.
Das zu bekämpfende Bürokratiemonster, für das sie gemeinhin gehalten wird, ist die EU jedoch nicht. Es ist vielmehr die Abwesenheit einer Meistererzählung oder einer Utopie, die jenes negative der Bürokratie zum einzigen verbliebenen Narrativ macht. Damit spielt man dem Nationalismus in die Hände.
Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland, Katalonien und anderen Gebieten könnten mit die Rettung der Europäischen Union sein: Sie zwingen die Union und die EU-Politik, sich endlich wieder auf die Überwindung der Nationalstaaten zu besinnen, sind äußerst loyal zur EU und schon aufgrund ihrer geringen Größe auf Integration angewiesen.
Während zumindest die größeren EU-Mitgliedsstaaten in der Fiktion leben können, dass sie im Notfall auch alleine überlebensfähig wären, gilt dies für die kleineren Staaten, die aus ihnen hervorgehen könnten, nicht.
Die Katalaninnen haben lange Zeit — 30 Jahre lang! — an die Verheißung der Regionalisierung geglaubt und aktiv an der Entwicklung entsprechender Konzepte mitgearbeitet. Sie wurden aber, wie andere auch, von dieser Union, die sich letztendlich nicht vom Primat der Nationalstaaten abgenabelt hat, enttäuscht. Nachdem die Perspektive einer innerstaatlichen Autonomie für viele nicht zufriedenstellend ist, wollen sie es jetzt auf einem anderen Weg versuchen.
Nach dem Brexit ist Schottland nun wohl der letzte Weckruf für die EU: Das Vereinigte Königreich, vor allem England, will zurück in die »splendid isolation«, während sich die Schottinnen womöglich so tief in die EU integrieren möchten, wie nie zuvor. Wohl auch das Risiko, die Europäische Union verlassen zu müssen, hatte 2014 dazu geführt, dass sich die dortigen Bürgerinnen gegen die Unabhängigkeit entschieden.
Nun wird ausschlaggebend sein, wie sich die EU mit einem möglicherweise abspaltungswilligen Schottland verhält: Schafft sie es, sich als kontinentale Union zu verstehen und nicht zuerst als Club von Nationalstaaten, der sie (geworden) ist?
Der Brexit sollte schließlich für alle ersichtlich gemacht haben, dass die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland (aber eben auch in Katalonien) keine Desintegration, sondern ein Beitrag zu Integration sind. Vor dem Brexit klang das in manchen Ohren vielleicht noch paradox, nun aber ist — dadurch, dass sich die beiden Wege getrennt haben — klarer denn je:
Die neuen Regionalstaaten [würden] nicht so sehr aus ihrem bisherigen Mutterstaat heraus – als vielmehr in den Schoß Europas mit seinen innig verschlungenen Wirtschaftsbeziehungen hineinfallen […]. Solch ein Staatenverfall wäre nicht Ausdruck von Desintegration, sondern im Gegenteil als Folge gesteigerter Integration zu werten.
— Burkhart Müller (Süddeutsche Zeitung, 2011)
Die Europäische Union ist gefordert, klare Regeln für interne Erweiterung und Regionalisierung zu erstellen. Sollten Schottland und Katalonien abgewiesen werden, ist vielleicht der letzte Zug zur Überwindung von Nationalstaaten durch die EU abgefahren.
Es wird aber auch eine schwere Schuld der EU sein — ein Verrat an ihren Idealen — wenn sie neue »föderale Subjekte« als solche ablehnt und stattdessen in eine Rolle zwingt, die de facto eine Gleichstellung mit den Nationalstaaten bedeutet. Den neuen Staaten könnte dies aber den Schlüssel in die Hand geben, um die Regionalisierung des Kontinents von innen voranzutreiben.
Schottland, Katalonien — Südtirol? — als Speerspitze der Regionalisierung.
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