“Demokratischer Konföderalismus” lautet die Formel für die Art von politisch-sozialer Organisation, die sich die Region Rojava (“Westen” auf kurdisch) gegeben hat. In diesem nördlichen Teil Syriens längs der Grenze zur Türkei leben mehrheitlich Kurden und andere Minderheiten wie Assyrer, Araber, christliche Chaldäer. Die Region hat sich im Jänner 2014 zur demokratischen Autonomie erklärt, eine Regionalverfassung verabschiedet und am 16. März 2016 ihren autonomen Status als “Föderation Nordsyrien – Rojava” bekräftigt.
Die Kurden der PYD und politische Kräfte der anderen Volksgruppen haben in Rojava in diesen Jahren des Bürgerkriegs in Syrien eine erstaunliche Entwicklung eingeleitet. Mitten in den Kriegswirren behauptet sich eine radikale Alternative staatlicher Organisation zum autoritären Staat im sonstigen arabischen Raum. Dieses Modell hat den arabischen Frühling robust überlebt und wird wahrscheinlich demnächst auf die Türkei ausgreifen.
Dabei hat Rojava auch Abschied genommen von den früheren Vorstellungen eines sozialistischen Kurdenstaats, der beim Kampf der PKK für Selbstbestimmung in der Türkei jahrelang Oberziel war. Abdullah Öcalan selbst, seit 1999 Gefangener der Türkei auf der Insel Imrali, hat mit seinen Schriften diese Wende eingeleitet. Man könnte das Konzept auch kommunalistisch nennen: die Revolution muss von unten kommen und die Gesellschaft in ihrer alltäglichen Herrschaftsausübung demokratisieren. So legt Rojava gleich viel Wert auf die Gleichberechtigung der Frauen wie auf Demokratie und kulturelle Selbstbestimmung. Frauen müssen nach dem Prinzip der Doppelbesetzung auf allen führenden Posten vertreten sein und in den Räten mindestens 40% der Mitglieder stellen. Die Frauen stellen auch eigene Einheiten der Selbstverteidigungskräfte Rojavas (YPJ=Einheit zum Schutz der Frauen) und der Polizei. Westkurdistan strebt nicht nach Unabhängigkeit, sondern ist bereit, sich in ein demokratisches und föderalistisches Syrien einzuordnen. Das neue Syrien wird seinen Kurden demnach mindestens jenen Status zusichern müssen, den die Autonome Region Kurdistan im Irak genießt.
Dennoch haben sowohl das Assad-Regime in Damaskus als auch die syrische Opposition die Erklärung zur demokratischen Autonomie Rojavas abgelehnt. Mit Demokratie, Frauenrechten und Föderalismus können solche Kräfte nichts anfangen. Natürlich auch die Türkei, die jeden Ansatz von kurdischer Autonomie innerhalb und an ihren Grenzen im Keim ersticken will. Deshalb ist Ankara in den letzten Monaten auch schon militärisch in Syrien interveniert, um die Bildung eines zusammenhängenden Gebiets der Kurden Rojavas zu verhindern. Schließlich hat die Türkei auch alles getan, um Rojava von jeder humanitären Hilfe und Wiederaufbauunterstützung abzuriegeln, was in der Blockade von Kobane gipfelte, das im Sommer 2015 beinahe vom IS eingenommen worden wäre. Unter größten Verlusten konnten die kurdischen Kämpferinnen die Terrormiliz zurückschlagen und drängen heute den IS immer mehr nach Süden zurück.
Rojava hat sich eine Art demokratisches Rätesystem gegeben, ist die einzige Region Syriens mit einigermaßen Sicherheit, Religionsfreiheit und Demokratie und wirbt international um Unterstützung. Das Modell strahlt auch in Syrien aus, denn auch in anderen befreiten Gebieten sind autonome Selbstverwaltungen ausgerufen worden.
Doch steht Rojava noch ein langer Weg der Anerkennung und Selbstbehauptung bevor. So wurde die autonome Region, auf Druck der Türkei und des Iran sowie wegen mangelnder Unterstützung Europas, gar nicht in die Friedensverhandlungen Genf III einbezogen. Wie üblich ist die EU gegenüber Rojava lauwarm und engagiert sich zu wenig und zu wenig koordiniert. Die USA könnten zum wichtigsten Bündnispartner Rojavas und des PYD werden, das aber keinen Zweifel daran lässt, dass es nicht als Bodentruppe für die geostrategischen Interessen irgendeiner Großmacht missbraucht werden will.
Kann der demokratische Konföderalismus für die Region Rojava eine stabilere Zukunft bringen, indem diese Regierungsform das friedliche Zusammenleben zwischen der kurdischen Mehrheit und den ethnischen sowie religiösen Minderheiten fördert? Welche Schwachpunkte hat diese Verwaltungsform? Wie unterscheidet sie sich von anderen Mechanismen des Umgangs mit ethno-kultureller Vielfalt? Kann diese Form der Autonomie eine Rolle in der Lösung des Konflikts in Syrien und in anderen Regionen des Nahen Ostens spielen? Diese Fragen erörtern Experten aus dem In- und Ausland auf einer Tagung am 21. April 2017 in Bozen, organisiert von der Eurac, der Gesellschaft für bedrohte Völker – Südtirol und dem kurdischen Informationsbüro in Italien (Ufficio d’Informazione del Kurdistan in Italia/UIKI Onlus).
Michael Knapp – Ercan Ayboga – Anja Flach
Revolution in Rojava
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2015
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