Heute feiern wir 70 Jahre Gruber-Degasperi-Abkommen — das sind jene zwei Fresszettel (wie sie der Historiker Hans Heiss in der Tageszeitung vom 3. September bezeichnet hat), auf deren Grundlage die Südtirolautonomie entstanden ist.
Über die historische Bedeutung des Pariser Vertrags herrscht Einigkeit.
Dieses Zitat aus der aktuellen ff nehme ich zum Anlass, um die Einschätzungen mehrerer Historikerinnen miteinander zu vergleichen, die während der letzten Tage in den Medien erschienen sind:
- Die ff hat den Politologen und Historiker Günther Pallaver zum Gruber-Degasperi-Abkommen befragt.
- Auf Salto wurden Beiträge von Eva Pfanzelter, Maurizio Ferrandi, Michael Gehler und Andrea Di Michele über den Pariser Vertrag veröffentlicht.
- In den Dolomiten vom 3. September ist ein Artikel von Rolf Steininger erschienen.
Die Verhandlungen
Eva Pfanzelter schreibt bei Salto, dass die Londoner Außenministerkonferenz für Italien in einem »Desaster« endete.
Das bedeutete: Keinen Friedensvertrag, keine Revision der Waffenstillstandsbedingungen, keine Zustimmung, das Land als “friendly cobelligerent” (freundschaftlichen Kriegsverbündeten) einzustufen, kein “non-punitive agreement” (nicht-bestrafender Friedensvertrag) und schließlich absehbarer Verlust aller Kolonien.
— Pfanzelter
Dagegen glaubt Andrea Di Michele:
Ciò aveva messo l’Italia in una situazione particolare, quella di paese “cobelligerante”, come veniva definito e riconosciuto dagli stessi alleati.
— Di Michele
»Cobelligerant«, »friendly cobelligerant« oder doch nicht? Jedenfalls hatten die Italienerinnen während der Verhandlungen offenbar nicht viel auszurichten:
Den Italienern wurden daher in den folgenden Monaten viele Regelungen schlichtweg diktiert, von einer Mitbestimmung konnte nicht die Rede sein.
— Pfanzelter
Ein Diktat war es laut Günther Pallaver jedoch keineswegs. Im Gegenteil:
[Degasperi] war rein formal nicht gezwungen, sich auf so einen Vertrag einzulassen. Es hatte zwar Druck seitens der Engländer gegeben, aber letztlich war es ein freiwilliger Akt.
— Pallaver
Laut Di Michele hatte aber weder Österreich, noch Italien einen Handlungsspielraum:
In quel frangente i margini di manovra di Austria e Italia sono assai limitati e sarebbe pertanto sbagliato ricondurre l’intera vicenda alle mosse dei due giocatori […]
— Di Michele
Während es Michael Gehler genau umgekehrt zu sehen scheint.
Tatsächlich war es ein Erfolg der britischen Diplomatie, die das Minderheitenproblem auf bilaterale Weise lösen ließ und sich damit der politisch-moralischen Verantwortung für den Londoner Geheimvertrag von 1915 entzog.
— Gehler
Die Britinnen ließen das Minderheitenproblem bilateral lösen. Also doch wieder zwischen Österreich und Italien. A propos Minderheiten: Für diese hat sich auf internationalem Parkett angeblich niemand interessiert:
La nuova Europa della guerra fredda viene ridisegnata avendo quale unico punto di riferimento l’equilibrio tra le superpotenze, con un disinteresse assoluto per le sorti delle minoranze linguistiche.
— Di Michele
Doch laut Gehler drängten die Britinnen auf eine Autonomie für Südtirol. Und ganz so desinteressiert, wie von Di Michele angegeben, waren auch die Amerikanerinnen anscheinend nicht, wenn man Pfanzelter glaubt:
Ende August 1945 empfahlen die amerikanischen Behörden, die Rückgabe der Provinz an die italienische Verwaltung an Bedingungen zu knüpfen: Die Deutschsprachigen sollten weitreichende Zugeständnisse im Bereich der Schule erhalten […] und die italienische Regierung solle den Deutschsprachigen Autonomiezugeständnisse machen.
— Pfanzelter
Für Di Michele ist schwer vorstellbar, dass einer deutschen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Zugeständnisse zuteil geworden wären:
Difficile immaginare che i vincitori facciano concessioni importanti a una popolazione di lingua tedesca dopo la guerra, dopo quella guerra e con la memoria ancora viva del ruolo che le minoranze di lingua tedesca avevano svolto nello scardinare gli equilibri internazionali, conducendo al conflitto generale.
— Di Michele
Doch:
Wegen ausständiger gesetzlicher Regelung durch Italien erließen die Alliierten im September/Oktober eine Schulregelung und unterstützten die Deutschsprachigen bei der Organisation von Schweizer Schulbüchern.
— Pfanzelter
Und so freiwillig, wie Pallaver (siehe oben) meint, wurde die Autonomie laut Pfanzelter von Italien nicht gewährt:
Am auffälligsten ist darüber hinaus wohl der anhaltende Druck der alliierten Stellen was die Einsetzung einer Autonomie für die deutschsprachige Minderheit betraf. […] Die [italienischen] Vorschläge gingen den amerikanischen Behörden nie weit genug.
— Pfanzelter
Mit den altösterreichischen Wurzeln von Degasperi bringt Maurizio Ferrandi einen neuen Faktor ins Spiel:
E non è un caso che le due firme poste in calce a quel documento appartengano a due persone le cui radici politiche e culturali affondavano nel terreno costituito dall’esperienza, finita purtroppo ma non per questo meno importante, di quell’impero asburgico che aveva tenuto assieme, per secoli, uomini e donne di fede, cultura e religione assai diverse.
— Ferrandi
Währenddessen schreibt jedoch Gehler:
Die auf De Gasperi ruhenden Erwartungen als Hoffnungsträger aufgrund seiner altösterreichischen Vergangenheit und guter Kenntnisse über Südtirol sollten sich als trügerisch erweisen. Er scheute sich, seit 1945 mit Gruber direkt in Kontakt zu treten und entsandte nur seinen Vertrauensmann, den italienischen Botschafter in London, Nicolò Carandini, nach Paris.
— Gehler
Pallaver meint im Widerspruch dazu:
Auch wollte [Degasperi] die Fehler vermeiden, die die Habsburger-Monarchie mit seinem Trentino gemacht hatte: Das, was die Tiroler bis 1918 den Trentinern immer verweigert hatten, nämlich eine Autonomie, sollte diesmal den Südtirolern nicht verweigert werden.
— Pallaver
Die Selbstbestimmung hätte laut Gehler zumindest ein wichtiges Druckmittel sein können:
De Gasperi [fürchtete] noch während der Pariser Friedenskonferenz die Zulassung einer Volksabstimmung in Südtirol, die zeitgleich von einer interalliierten Kommission geprüft werden sollte. Diese Forderung war die stärkte Waffe, die Österreich bis zuletzt in der Hand hatte. Gruber gab sie vorzeitig preis und verspielte damit auch das Kapital der Selbstbestimmung als Druckmittel in den Verhandlungen.
— Gehler
Die Vertreter der Südtiroler Volkspartei zusammen mit den Kollegen in Österreich schätzten die Situation in den Herbstmonaten 1945 anders ein: Hier verfolgte man konsequent die “Selbstbestimmungs-Strategie”.
— Pfanzelter
Pallaver dazu:
Für Österreich war es damals aussichtslos, Südtirol wieder zurückzubekommen. Das kleinere Übel hieß also Autonomie.
— Pallaver
Und Di Michele:
L’Austria e i sudtirolesi chiedono che siano gli abitanti dell’Alto Adige a esprimersi sulla sorte della provincia, ma nessuno tra i vincitori è interessato a mettere sul tavolo lo scottante argomento del rispetto dei diritti delle nazionalità e tanto meno dell’autodeterminazione dei popoli.
— Di Michele
Laut Pallaver besteht die Erfolgsgeschichte des Abkommens unter anderem darin
dass sich die Vertragsparteien immer an diesen Vertrag gehalten haben
— Pallaver
was nicht nur erstaunt, sondern auch seinen eigenen Ausführungen nicht standhält:
Degasperi hat bei der Umsetzung des Vertrages eine miese Rolle gespielt. Aber erst dieser Vertrag hat uns erlaubt, vor die Uno zu gehen […]
— Pallaver
Warum sollte man einen Streit bei der Uno beginnen, wenn sich die Vertragsparteien immer an diesen Vertrag gehalten haben?
Der Pariser Vertrag wurde in Folge nicht mit europäischem Geist umgesetzt, sondern im postfaschistischen Denken verwässert. De Gasperi handelte dabei alles andere als der viel gepriesene Europäer, der er erst Anfang der 1950er Jahre wurde: Eine ausdrückliche Erwähnung der Ladiner im Abkommen lehnte er ab wie die Forderung der Tiroler nach einer schiedsgerichtlichen Regelung, die auch von Gruber nicht weiter verfolgt wurde. So war echter Minderheitenschutz kaum möglich.
— Gehler
Und:
Parallel zu den Tiroler, Südtiroler und österreichischen Bemühungen, die Umsetzung des Pariser Abkommens anzugehen, lief eine italienische Gegenpropaganda an, dieses Vorhaben zu verzögern und letztlich zu verhindern. Auf verschiedenen Ebenen setzten Versuche zur Fortsetzung der früheren faschistischen Politik der Italienisierung Südtirols auf informeller Weise ein.
— Gehler
Bei soviel »Einigkeit« erstaunt es eher weniger, dass auch die Gesamtbewertung des Pariser Vertrags ziemlich heterogen ausfällt:
Inzwischen ist das Abkommen längst als Magna Charta akzeptiert und wird entsprechend gewürdigt.
— Steininger
Die Bezeichnung “Magna-Charta für Südtirol” (Rolf Steininger) ist nach allem, was bekannt und erforscht ist, eine übertriebene Beschönigung und unzulässige Überhöhung des Abkommens, da eine eigene Autonomie für die Südtiroler mit Hilfe dieser Vereinbarung Gruber-De Gasperi vereitelt wurde. Es war praktisch ein Dokument zur Verhinderung einer Magna Charta für Südtirol und tatsächlich nicht mehr als eine brüchige Krücke, die die Südtiroler zwang, sich auf die eigenen Beine zu stellen. […] Mit einer echten Magna Charta für Südtirol, sprich einer eigenen und wirksamen Autonomie, wären die Attentate der 1960er Jahre ausgeblieben.
— Gehler
Ein Dokument, das m. E. zwar fraglos als Magna Charta Südtirols gelten kann, das aber dennoch ein Dokument diplomatischer Schwäche Österreichs und des anhaltend starken Zentralismus Italiens ist und die Chance auf eine starke Autonomie schon 1946 gänzlich verspielte.
— Pfanzelter
D’altronde, oggi, dopo settant’anni, con una seconda autonomia ben completata, sono ancora moltissimi coloro che, in Alto Adige, vedono in quell’intesa il segno di una rinuncia frettolosa, di un cedimento inaccettabile. È una corrente di pensiero che […] oggi trova la sua concreta espressione politica soprattutto in quei partiti che apertamente propongono di gettare alle ortiche l’autonomia in cambio dell’autodeterminazione.
— Ferrandi
Die der enttäuschten Öffentlichkeit nördlich des Brenner vermittelte Auffassung der zeitgenössischen politischen Akteure vom Pariser Abkommen als dem “Maximum des Möglichen” ist jedoch nicht haltbar. Im Lichte der erwähnten legitimen Südtiroler Forderungen im Sinne der genannten Prioritäten war das Ergebnis des Abkommens nur ein Minimum vom Minimum.
— Gehler
Das Abkommen war das Maximum, was Gruber in Paris herausholen konnte.
— Steininger
[Grub]er kam daher De Gasperi so weit entgegen, dass das Abkommen einem Geschenk an Italien glich.
— Gehler
Es sollte aber letztlich nicht einmal die dritte Wahl sein, sondern die befürchtete Regionalautonomie mit dem Trentino.
— Gehler
Fürwahr: Über die historische Bedeutung des Pariser Vertrags herrscht Einigkeit.
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