In Großbritannien geht’s rund. Erst das BREXIT-Chaos und jetzt der Chilcot-Report, der der Entscheidung unter der damaligen Regierung Blair, an der Seite George W. Bushs in den Irak-Krieg zu ziehen, ein vernichtendes Urteil ausstellt.
Ich erspare mir und dem geneigten Leser jetzt eine Bewertung der Nahostpolitik des Westens der vergangenen 30 Jahre. Vielmehr möchte ich ein paar Gedanken zum Spannungsfeld zwischen direkter und repräsentativer Demokratie loswerden, da dieses nicht nur wegen des BREXITs, sondern auch aufgrund der unlängst abgehaltenen Befragungen/Abstimmungen in Südtirol (Plose-Seilbahn, Benko-Projekt, Flughafen …) kontrovers diskutiert wird. Dabei wird nicht selten die direkte Demokratie grundsätzlich in Frage gestellt.
Zunächst müssen wir uns klar sein, dass es in einer Demokratie nicht um richtig oder falsch (das ist subjektiv), sondern um gewollt oder nicht gewollt geht. Sowohl repräsentative als auch direkte Demokratie sind nicht unfehlbar, wenngleich – wie gesagt – richtig und falsch in diesem Zusammenhang keine funktionierenden Termini sind. Dennoch werden Entscheidungen im Nachhinein von vielen Seiten bewertet, wobei sich, wie auch jetzt im Falle des Irak-Krieges, hin und wieder ein klarer Tenor in Richtung “falsch” oder “richtig” entwickelt.
Jedenfalls sehe ich keine Hierarchie – im Sinne von “besser” und “schlechter” – zwischen direkter und repräsentativer Demokratie. Die BREXIT-Entscheidung ist zwar eine, die von sehr vielen als Fehlentscheidung gewertet wird; aber wie viele solcher – ebenso gravierender – “Fehlentscheidungen” hat die repräsentative Demokratie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten getätigt? Soweit ich mich erinnern kann, hat uns die Banken- und Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und das quasi Totalversagen im Zuge deren Bewältigung nicht die direkte Demokratie eingebrockt. Dennoch stellt kaum jemand – richtigerweise – die repräsentative Demokratie als solche in Frage.
Ich denke, eine Mischung aus deliberativen, direkten und repräsentativen Elementen macht eine gute und funktionierende Demokratie aus. Ein Garant, dass keine “Fehlentscheidungen” getroffen werden, ist das dennoch nicht. Wie auch der völlige Verzicht auf Partizipation kein Garant für perfekte Entscheidungen ist. Im Gegenteil, wir würden auf ein wichtiges Korrektiv verzichten. Beispielsweise hat uns die direkte Demokratie in Italien vor der – von der repräsentativen Demokratie gewollten – Atomkraft sowie der Privatisierung des Wassers und den Off-Shore-Ölbohrungen bewahrt. Wenngleich meine positive Sicht auf das Ergebnis dieser Abstimmungen freilich auch eine subjektive ist.
Auch das Argument, dass bestimmte Themen für das Volk zu komplex und weitrechend seien, um darüber befinden zu können, ist kein wirklich durchdachtes. So haben im Zuge der Finanzkrise (die wohl zu den komplexesten Sachverhalten zählt), die größten Experten, wie sich im Nachhinein herausstellte, katastrophale Fehleinschätzungen und -entscheidungen getroffen. Und auch bei der britischen Entscheidung für den Irak-Krieg haben Profipolitiker im Verein mit Experten nach Auffassung der Untersuchungskommission einen gravierenden Fehler gemacht, der bis heute nachwirkt und nach meinem Dafürhalten größere – zumal negative – Auswirkungen auf die Welt als der BREXIT hat. Einen Fehler, den “das Volk” beispielsweise nicht gemacht hätte. Wäre nämlich über die von der UNO nicht sanktionierte Entsendung der Truppen abgestimmt worden, hätte sich aller Wahrscheinlichkeit nach sogar eine Dreiviertelmehrheit im Vereinigten Königreich gegen den Krieg entschieden.
Überdies sind Personalentscheidungen – und das werden erfolgreiche Unternehmer wohl bestätigen – meist komplexer und weitreichender als einzelne Sachentscheidungen. Bei einer schlechten Personalentscheidung laufe ich nämlich Gefahr, dass in der Folge sämtliche Sachentscheidungen dieser Person suboptimal verlaufen. Die komplexe Personalentscheidung einer Wahl muten wir dem Volk jedoch unumstritten zu. Schwierige Sachentscheide könne man dem Volk hingegen nicht anvertrauen. Für mich ist das ein Widerspruch. Auch ein Politiker, der behauptet, dass gewisse Entscheide zu kompliziert für das Volk und seine “Schwarmintelligenz” seien, diskreditiert sich im Grunde selbst. Denn es war genau jenes “unwissende Volk”, das ihn an die Stelle gehoben hat, von der aus er dessen Entmündigung fordert. Somit war – der Logik des Politikers folgend – seine Wahl mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine Fehlentscheidung. Siegreiche Politiker werden kurz nach einer Wahl/Abstimmung meist aber nicht müde zu betonen, wie “mündig” das Volk entschieden habe.
Ein weiterer Einwand ist, dass die Bürgerinnen und Bürger bei Volksentscheiden zu sehr manipulierbar wären, als dass sie eine freie, durchdachte Entscheidung treffen könnten. Der Einwand lässt jedoch außer Acht, dass auch Berufspolitiker nicht frei von äußeren Einflüssen entscheiden. Zahlreiche Korruptions- und Lobbying-Affären – nicht zuletzt auch im Zuge der Finanzkrise oder des Irak-Krieges – entlarven die Immunität der Politiker gegenüber Manipulation als Mythos. Mehr noch, im Gegensatz zu einzelnen Politikern ist das gesamte Stimmvolk rein technisch nicht korrumpierbar. Überdies ist die Gefahr der Manipulation der Bevölkerung durch Lügen und Propaganda auch bei Wahlen gegeben. Wollen wir deshalb auf Wahlen verzichten?
Vor allem in Südtirol wird auch immer wieder behauptet, dass die Menschen noch nicht reif für die direkte Demokratie seien. Man könne sich nicht mit der Schweiz vergleichen, denn dort würden Volksentscheide eine jahrhundertelange Tradition haben. Dieser Logik folgend, dürfte man Dinge also nur tun, wenn man sie bereits perfekt beherrscht. Es ist richtig, dass direkte Demokratie eine gewisse Reife voraussetzt. Aber diese Reife stellt sich nicht urplötzlich ein. Demokratie ist ein Prozess. (Direkte) Demokratie lernt man, indem man sie ausübt. Anders geht das nicht. Wenn wir direktdemokratische Instrumente nicht zulassen, werden wir auch in fünfhundert Jahren nicht “reif” dafür sein.
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