Fragmente
[…]
2 Die Haupträume des kleinen Berghotels liegen an der breiten Seite des länglichen Baukörpers und schauen ins Tal. Zu ebener Erde befinden sich nebeneinander zwei holzgetäfelte Stuben, beide vom Gang aus zu betreten und untereinander durch eine Tür verbunden. Die kleinere scheint zum bequemen Sitzen und Lesen einzuladen, die grössere ist offensichtlich der Raum, in dem gegessen wird: Darin fünf Tische, alle schön plaziert. Im mittleren Stock befinden sich Gästezimmer mit tiefen, schattigen Holzlauben davor und zuoberst Gästezimmer hinter offenen Balkonen.
In den oberen Zimmern würde mir der freie Himmel, der weite Ausblick zu den Bergketten am Horizont gefallen, denke ich, als wir uns dem Haus zum ersten Mal nähern. Aber auch die Vorstellung, eines der unteren Zimmer zu erhalten und die Intimität der Lauben am späten Nachmittag beim Lesen oder Schreiben zu geniessen, scheint verlockend.
Am Fuss der Treppe, die von den oberen Stockwerken zum Eingang hinunterführt, ist in der Stubenwand eine Öffnung angebracht. Eine Durchreiche für Speisen. Auf dem Simsbrett der Durchreiche stehen am frühen Nachmittag Früchtekuchen und weisse Teller für die Gäste bereit. Der Duft der frischen Kuchen überrascht uns, als wir die Treppe herunterkommen. Die Tür zum gegenüberliegenden Raum steht halb offen. Küchengeräusche dringen heraus.
Nach ein, zwei Tagen kennen wir uns aus. Auf derjenigen Seite des Hauses, die an die grosse Wiese angrenzt, sind Liegestühle gestapelt. Drüben, im Halbschatten des Waldrandes bemerken wir in einem solchen Stuhl eine lesende Frau. Wir nehmen zwei Liegen und suchen uns einen Platz. Tagsüber setzen wir uns zum Kaffeetrinken meist an einen der Holzklapptische auf der schmalen Veranda vor den Stuben. Die schmalen Holzbretter der Klapptische sind in regelmässigen Abständen an der vorderen Brüstung der Veranda angebracht. Gut zum Lesen, diese kleinen, an die Brüstung angeschmiegten Tische-Orte, der Ellbogen ruht auf dem breiten Verandasims. Das Brett hat dafür die richtige Höhe.
Bei den Gesprächen mit anderen Gästen des Hauses in der Dämmerung sitzen wir meist an einem der grösseren Verandatische. Diese sind an der Hauswand aufgereiht und geschützt durch die vorspringenden oberen Teile des Hauses. Nach dem Abendessen wird die Fenstertür zur Veranda geöffnet, man vertritt sich die Füsse, schaut ins Tal, trinkt noch etwas, kommt ins Gespräch und setzt sich in die Nähe der Wand, die noch warm ist von der Sonne des Tages. Nur einmal sitzen wir abends am grossen Ecktisch am unteren Ende der Veranda, der zum Eingangsbereich des Hauses gehört und der tagsüber mehrheitlich von Leuten benutzt wird, die zum Haus zu gehören scheinen. Den Stunden an jenem Tisch ging eine Einladung voraus, dort nach dem Essen zusammenzukommen. Am Morgensonnentisch am anderen Ende der Veranda war ich nie. An den sonnigen Morgentagen sass dort meist jemand und las.
Wenn ich an Gebäude denke, die mir auf ungezwungene und natürliche Weise räumliche Situationen anbieten, die zum Ort, zum Tagesablauf, zu meiner Tätigkeit und meinem Befinden passen, wenn ich mir Architektur vorstelle, die mir Raum zur Verfügung stellt, mich wohnen lässt, die meine Bedürfnisse vorausahnt und sie ohne grosses Aufheben erfüllt, dann kommt mir dieses Berghaus in den Sinn. Gebaut hat es ein längst verstorbener Maler für seine Gäste.
aus Zumthor, Peter, Architektur denken, Verlag Lars Müller, Baden 1998
Peter Zumthor ist Architekt in Haldenstein, Graubünden und Professor an der Accademia di architettura in Mendrisio, Tessin. Er ist regelmäßiger Gast der Pension Briol und wurde mit deren Erweiterung in Form kleiner Dépendancen betraut, wofür er u.a. in Finnland mit dem »Spirit of Nature Wood Architecture Award 2006« ausgezeichnet wurde.
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