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Gelebte direkte Demokratie.

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Gastbeitrag von Adelheid Mayr, Südtirol/Schweiz

Die Schweiz ist das einzige Land der Welt, in dem das Volk selbst als höchste Instanz über eingebrachte Sachfragen abschließend entscheiden kann.

Am Sonntag, 28. Februar findet die erste von vier Volksabstimmungen für 2016 statt. Die Inhalte sind diesmal mehr als brisant: So kann das Schweizer Stimmvolk entscheiden ob für den Gotthard-Straßentunnel eine zweite Tunnelröhre gebaut wird oder aber ob kriminelle Ausländer mit sofortiger Wirkung ausgeschafft werden können.

Solche Initiativen können auf Landes-, Kantons- oder Gemeindeebene eingebracht werden. Einige Initiativen sind obligatorisch, z.B. bei Verfassungsänderungen muss das Volk dieser zustimmen. Bei Bundesgesetzänderungen durch das Parlament reichen 50.000 Unterschriften von stimmberechtigten Personen aus, um diese dem Volk vorzulegen und dadurch gegebenenfalls deren Inkrafttreten zu verhindern. Für andere Themen und Vorschläge müssen auf Landesebene mindestens 100.000 Unterschriften stimmberechtigter Bürger gesammelt werden. Auf Kantons- und Gemeindeebene sind die Quoten geringer.

Jeder stimmberechtigte Schweizer Bürger im In- oder Ausland kann für oder gegen die einzelnen eingebrachten Initiativen abstimmen. Die Abstimmung erfolgt entweder vorab per Briefwahl oder am Abstimmungstag in den von der Gemeinde ausgewiesenen Stellen.

Pionierarbeit leistet die Schweiz vor allem im Aufarbeiten von Themen, über die abgestimmt wird. Auf Schweizer, Kantons- und Gemeindeebene werden Broschüren erstellt, wo die einzelnen Initiativen neben dem Gesetzestext volksnah und verständlich erklärt werden. Für jede Initiative ist auch eine Stellungnahme der Initiatoren sowie eine Empfehlung des jeweilig zuständigen politischen Organs (z.B. des Regierungsrats) aufgeführt. Diese Broschüren sind auch online zugänglich und können unter folgenden Links eingesehen werden (ein Blick lohnt sich; vor allem die Südtiroler Politik kann von dieser volksnahen Kommunikationsart noch sehr viel lernen):

  • Schweizweite Initiativen;
  • Kantonsebene, am Beispiel des Kantons Zürich;
  • Gemeindeebene, am Beispiel der Züricher Gemeinde Kilchberg (sehr lesenswert ist die Stellungnahme einer unabhängigen Rechnungsprüfungskommission über Kosten/Nutzen der Instandsetzung eines öffentlichen Gebäudes auf der letzten Seite. Eine solche Kosten-/Nutzenrechnung hätte vielen kleinen Südtiroler Gemeinden gut getan, deren Feuerwehrautos in top-modernen, eigens gebauten Holz-/Glasbauten stehen).

Hier als Beispiel die Veranschaulichung der Bau- und Sanierungsetappen der Gotthard-Tunnelröhre:

Gotthard-Sanierung.

Am Schweizer System der direkten Demokratie wird auch viel Kritik ausgeübt: Zum Beispiel entscheidet immer die Mehrheit der Stimmen. Bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 44%, entscheidet also nicht einmal die Hälfte der stimmberechtigen Bürger über die Mehrheit (inkl. Ausländer und Minderjährige). Diese geringe Wahlbeteiligung ist auch ein Indiz, dass die Mehrzahl der Bürger entweder nicht an den Initiativen interessiert ist oder aber von den Abstimmungen überfordert ist. Zu dieser Überforderung tragen teilweise auch Parteien bei, die im Vorfeld zu den Abstimmungen mit Wahlpropaganda Empfehlungen aussprechen. Einige böse Zungen behaupten, das Stimmvolk würde durch diese Interessensgruppen manipuliert. Befürworter der direkten Demokratie halten dagegen, dass es schwerer ist, ein ganzes Volk zu manipulieren, als eine begrenzte Zahl an Abgeordneten und Parlamentariern.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die direkte Demokratie zu langsam sei. Es dauert Zeit, bis genügend Unterschriften gesammelt sind, die Initiativen aufbereitet werden und zur Abstimmung kommen. Dem entgegenzuhalten ist, dass die Gesetze dann auch entsprechend durchdacht sind und vom Volk verstanden und mitgetragen werden.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Forderungen des Volkes immer häufiger und extremer werden und auch fremden- und wirtschaftsfeindliche Ergebnisse möglich sind (z.B. Abstimmung zu Minarettverbot oder Stoppen der Masseneinwanderung). Dadurch steigt der administrative und regulatorische Aufwand, aber auch der internationale Erklärungsbedarf. Wie ich die Schweizer kenne, wird es auch dafür eines Tages eine gute neue Initiative geben, die diesen Punkt aufgreifen wird.


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Comentârs

8 responses to “Gelebte direkte Demokratie.”

  1. Tirola Bua avatar
    Tirola Bua

    Sehr guter Beitrag Frau Mayr.
    Die Schweiz hat wirklich eine Vorreiterolle in Sachen Demokratie auf der Welt.
    Während sich Europa politisch gesehen immer noch im Mittelalter befindet, wo nach Gutsherrenart Entscheidungen getroffen werden und Politik nur im Sinne der Bonzen und Konzerne gemacht wird, sind die Schweizer schon einige Hundert Jahre weiter.
    Das Beste bei der Direkten Demokratie ist, dass es nur ein “ja” oder “nein” gibt. Dann kann das Volk nur in zwei Teile geteilt werden und nicht in dutzende wie in der Parteien”demokratie”. Und das verhindert endlose Kämpfe.
    Einen kleinen Einspruch habe ich aber: In einer Demokratie ist das Volk der Chef. Alle Macht geht vom Volke aus. Das heißt, dass es auch die Entscheidungen trifft. Diese Entscheidungen können deswegen nicht falsch, extrem oder schädlich sein.

    1. Sabina avatar
      Sabina

      Einen kleinen Einspruch habe ich aber: In einer Demokratie ist das Volk der Chef. Alle Macht geht vom Volke aus. Das heißt, dass es auch die Entscheidungen trifft. Diese Entscheidungen können deswegen nicht falsch, extrem oder schädlich sein.

      Doch. Auch der Chef (oder die Chefin) können falsche, extreme oder schädliche Entscheidungen treffen.

      1. Tirola Bua avatar
        Tirola Bua

        Ja, aber sie wird von der Mehrheit unterstützt. Sollte es aber Nachteile bringen, dann wird das schnellstmöglich geändert.

      2. Sabina avatar
        Sabina

        Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Entscheidungen, die von einer (wie auch immer gestalteten) Mehrheit getragen werden, sind demokratisch legitimiert (solange wir – frei nach Churchill – kein besseres System als das der Mehrheitsentscheidungen gefunden haben).
        Ob diese Entscheidungen jedoch falsch, extrem oder schädlich sind, hängt von anderen Bezugsgrößen ab.
        Falsch ist eine Entscheidung, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass sie entweder auf nicht korrekten Prämissen fußt, den Kontext, in dem sie gefällt wird nicht oder unzureichend berücksichtigt und/oder nicht zum gewünschten Ergebnis führt. (Außerdem gibt es noch eine ethische Dimension von “falsch” und “richtig”, aber das wird zu komplex.)
        Extrem ist eine Entscheidung, die sich an den äußeren Rändern des Mainstreams bewegt – in diesem Fall ist ein Mehrheitsdiskurs noch am ehesten angebracht: eine Mehrheit kann sich nicht en bloc im Extrem befinden. Dort wo sie ist, ist der (aktuelle und kontextgebundene) Mainstream. Allerdings hat die Autorin, so nehme ich an, mit dem Begriff “extrem” etwas anderes gemeint, nämlich Entscheidungen, die sich an den rechten und linken Rändern des politischen Spektrums bewegen. Und in diesem Sinne können auch Mehrheitsentscheidungen durchaus extrem(istisch) sein.
        Was die Schädlichkeit anbetrifft, kann eine Mehrheitsentscheidung gerade für die jeweilige(n) Minderheit(en) ausnehmend schädlich sein, weshalb es für diese in demokratischen Systemen auch besondere Schutzmechanismen gibt.
        Dass eine Mehrheit falsche, extreme oder schädliche Entscheidungen eventuell ex post korrigiert, falls (ihr selbst) daraus Nachteile erwachsen, ändert an sich nichts daran, dass diese Entscheidungen falsch, extrem oder schädlich waren.

      3. Harald Knoflach avatar

        *clap* *clap* *clap*

      4. Tirola Bua avatar
        Tirola Bua

        Es ist alles eine Frage des Standpunktes. Zum Glück entscheidet die Mehrheit und nicht die Minderheit.

      5. hunter avatar
        hunter

        du hast schon verstanden, was sabina geschrieben hat, oder?

  2. Adelheid Mayr avatar
    Adelheid Mayr

    Danke für die Kommentare. Eine Anregung noch: derzeit werden 100.000 Unterschriften für eine schweizweite Initiative benötigt, das sind nicht mal 2 % der Bevölkerung. Bei Einführung der Volksinitiativen 1891 mussten noch 7 % der Bevölkerung unterschreiben. Ich denke dass die Anzahl der benötigten Unterschriften in Zukunft angehoben wird um dadurch höhere Hürde für neue Initiativen zu schaffen.

    Auch noch ein kurzer Rückblick zum Wahlergebnis. Die meisten Wahllokale schlossen am Sonntag um 12 Uhr. Nicht mal eine Stunde später wurden schon erste Hochrechnungen bekannt gegeben. Dies wird auch durch die gern genutzte und vorab auszählbare Briefwahl ermöglicht.
    Alle Ergebnisse sind auch Online einsehbar, z.B: Schweizweit und Kanton Zürich https://www.zh.ch/internet/de/aktuell/wahlen_abstimmungen.html

    Direkte Demokratie heisst auch den Volkswillen akzeptieren können. z.B. wurde in der im Artikel erwähnten Gemeine Kilchberg für die teure Renovation des älteren Hauses gestimmt. Nun ja, ich hoffe die Gemeindebevölkerung hat viel Freude damit.

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