Taiye Selasi ist in London geboren und in Boston aufgewachsen. Ihr ghanaischer Vater lebte in Saudi Arabien, ihre nigerianische Mutter in Ghana, und beide waren Staatsbürger von Ländern, die noch gar nicht existierten, als sie geboren wurden. Kaum verwunderlich also, dass die Schriftstellerin und Fotografin wenig von unveränderlichen Staatsgebilden und Zugehörigkeiten aufgrund unveränderlicher/angeborener Merkmale hält. Als sie kürzlich an einem Wochenende von Pantelleria nach Lana reiste, bewog sie dies offenbar, über Identität und Nationalität zu sinnieren — und ihre Überlegungen für die New York Times »zu Papier« zu bringen.
Weder die Bewohnerinnen von Pantelleria, noch jene von Lana fühlen sich laut Selasi als Italienerinnen.
Irgendwie hatte ich, obschon ich seit 2011 immer wieder in Rom gelebt hatte, nie bezweifelt, dass Dörfer in der Nähe zu Tunesien und zu Österreich zu einem Italien gehörten. Nun fragte ich mich: Wenn weder meine sizilianischen noch meine Südtiroler GastgeberInnen von ihrer Italianität überzeugt waren, wer war dann ItalienerIn? Was ist Italien?
Dass der Nationalstaat eine jüngere Erfindung war, entdeckte Selasi ihren Ausführungen zufolge während ihres Studiums der Internationalen Beziehungen in Oxford. Zeitungen und Bücher, schreibt sie, bezögen sich auf diese Gebilde als handle es sich um natürlich vorkommende, einzigartige, nahezu antropomorphe ‘Dinge’.
Ich war nicht überzeugt. Persönlich glaubte ich nicht an die Nation. Während meines Lebens waren sie verschwunden (Tschechoslowakei), entstanden (Timor-Leste) oder gescheitert (Somalia). […] Dass wir alle irgendwie unser eigenstes Grundgefühl von einer Nation ableiten sollten — von diesem erweiterbaren, zerbrechlichen, erfundenen ‘Ding’ — schien mir absurd.
Eine Nation, habe sie später gelernt, sei ein kulturelles und ethnisches Gebilde, ein Staat ein politisches und geopolitisches. Sie schreibt, die Idee des modernen Nationalstaats — ein souveräner Staat, der eine Kulturnation regiert — sei nichts anderes als eine 350 Jahre alte Idee, der man ihr Alter ansehe. Eine Nation sei nichts Ewiges, eine Nationalität nichts Biologisches, im Gegenteil: In fast allen »Nationalstaaten« habe man die »Nation« erst erfinden müssen. Und um diese Fiktion zu verwirklichen, musste die Kultur der einen über die der anderen gestellt werden.
Heute diene die Nationalität nicht einer positiven Eigendefinition, sondern nur der Abgrenzung. Wenn die Alternative »ItalienerIn« sei, definiere man sich als »Pantesco«, wenn die Alternative »Nigerianerin« sei, definiere man sich zur Abgrenzung als »Italienerin«. Zuwanderer hätten es oft schwer, als Italienerinnen akzeptiert zu werden, obschon (oder vielleicht gerade weil?) gar niemand genau sagen könne, was italienisch ist.
Die Konstruiertheit der Nationalitäten zu akzeptieren, wozu uns die Geschichte zwingt — zu akzeptieren, dass die Italianität eines sizilianischen Seemanns, eines Landwirts aus Lana und eines Migranten aus Somalia genauso imaginär sind — heißt zu akzeptieren, dass jeder eine Bürgerin sein kann. Das sind Fragen von Macht, Wahrnehmung und Politik, nicht der Möglichkeit. Denn die Möglichkeit war immer schon da. Wie jede moderne Nation kann Italien, und jede moderne Nation kann, wie Italien, nachdem sie imaginär ist, jetzt neu erdacht werden.
Kaum eine Aussage könnte das Nationenprinzip nüchterner auf den Punkt bringen. Und somit seine hehren Ansprüche zerstören.
Der Originalbeitrag von Taiye Selasi (Dezember 2014) kann hier nachgelesen werden.
Übersetzungen von mir.
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