Vor mehreren hundert Zuhörern diskutierten vorgestern Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein, Landeshauptmann Arno Kompatscher und -Blogger Wolfgang Niederhofer in Schlanders zum Thema “Der Staat im dritten Jahrtausend”. Dabei wurde der Landeshauptmann aus dem Publikum auch mit der Frage einer möglichen Abstimmung über die Zukunft Südtirols konfrontiert. Kompatscher ließ an diesem Abend mehrmals durchblicken, dass er kein Freund des Nationalstaates sei und dass die derzeitige Situation Südtirols für ihn nicht das Ende der Fahnenstange bedeute. Einer Abstimmung erteilte er – ganz im Sinne der gängigen SVP-Doktrin – zum derzeitigen Zeitpunkt eine Absage. Vielmehr müsse der Weg zur mehr Eigenständigkeit über Europa führen. Der LH begründete dies unter anderem damit, dass für die Erlangung der Unabhängigkeit die rechtliche Grundlage fehle und dass man realistische Ziele anstreben müsse und keine falschen Hoffnungen wecken solle.
Nichts liegt mir ferner, als die derzeitige Flüchtlingstragödie und das damit einhergehende Versagen der europäischen Politik für politische Zwecke missbrauchen zu wollen. Die laufende humanitäre Katastrophe zeigt jedoch eindrucksvoll, dass politisches Handeln nicht immer den Buchstaben des Gesetzes folgt respektive folgen kann und dass pragmatische Ansätze mitunter der einzige Ausweg sind. Ähnliche Erkenntnisse brachte übrigens auch die globale Finanzkrise zutage. Noch einmal: Ich möchte hier weder die Flüchtlinge instrumentalisieren noch die Entscheidungen diesbezüglich oder jene im Rahmen der Finanzkrise in irgendeiner Form bewerten. Es geht mir einzig und allein darum aufzuzeigen, dass sich politisches Handeln nicht auf den rechtlichen Aspekt sowie einen vermeintlichen – immer auch subjektiven – “Realismus” reduzieren lässt.
Für eine syrische Familie ist es gleichermaßen unrealistisch wie rechtlich unmöglich, ohne die nötigen Dokumente und noch dazu über die Route durch sichere Drittländer nach Deutschland zu gelangen. Dennoch haben dies in den vergangenen Tagen tausende unter den Augen von Politik und Exekutive getan. Obwohl Dublin III nach wie vor in Kraft ist, obwohl Griechenland die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft registrieren hätte müssen, obwohl sie nicht hätten weiterreisen dürfen, obwohl Österreich verpflichtet gewesen wäre, sie nach Ungarn zurückzuschicken. Jedes Phänomen hat also eine rein rechtliche und eine pragmatisch-politische Dimension. Freilich ist die Katastrophe in Syrien weder in ihrem Ausmaß, noch in ihren Auswirkungen und in ihrer Relevanz auch nur im entferntesten mit der Diskussion um Selbstbestimmung in Europa vergleichbar. Sie hilft aber, Mechanismen politischen Handelns besser zu verstehen.
Es waren die Katalanen und die Schotten, die die Europäische Union sowie deren Mitgliedsstaaten gezwungen haben, sich überhaupt mit der Frage der “inneren Erweiterung” und möglichen, bislang nicht existierenden “Scheidungsregeln” auseinanderzusetzen. Südtirol hat dazu nicht nur nichts beigetragen, sondern hat sich auch aus der laufenden Diskussion ausgeklinkt, während die Katalanen das Anliegen weiter internationalisieren. Freiwillig wäre die EU niemals auf die Idee gekommen, sich mit diesen Dingen zu befassen; ja, sie tut sich immer noch schwer damit. Ist es also “realistisch”, wenn der Landeshauptmann auf eine Regionalisierung der EU hofft, die in weiterer Folge mehr Eigenständigkeit für Südtirol/die Euregio bringen soll? Ist es realistisch, dass sich die Nationalstaaten (die nationalen Regierungen), die in der Union nach wie vor das Sagen haben, freiwillig zugunsten kleinerer Einheiten selbst entmachten? Ist es tatsächlich so viel unrealistischer, dass die EU eine pragmatische Lösung finden würde, sollte Katalonien tatsächlich einen Präzedenzfall schaffen und sich von Spanien abkoppeln? Ist es unrealistischer, dass die Umgestaltung und Demokratisierung der EU eher in bottom-up-Prozessen à la Katalonien, denn durch top-down-Entscheidungen des Rates der Europäischen Union passiert?
Hätten sich die syrischen Flüchtlinge mit einem Leben in den Massenlagern der Nachbarländer zufriedengestellt, wären sie nicht einfach in Richtung Europa aufgebrochen, hätte sich die Union niemals darüber überhaupt Gedanken gemacht, wie man legale Asylmöglichkeiten schaffen oder die Ursachen der Flucht beseitigen könnte.
Katalanen und Schotten haben gezeigt, dass es Initiative braucht, um etwas zu bewegen. Sie haben auch bewiesen, dass sich der Drang nach Unabhängigkeit und der Ausbau von Autonomie nicht ausschließen. Sich in der Politik immer nur im Rahmen des rechtlich Möglichen/realistisch Machbaren zu bewegen und auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, hemmt visionäre Lösungen und bringt keine Weiterentwicklung. Artikel 5 der italienischen Verfassung, an deren Verabschiedung Südtirol nicht beteiligt war und wonach der Staat unteilbar sei, ist anachronistisch und — wie auch Kompatscher bei einer Diskussion in Innsbruck bestätigte — undemokratisch. Was läge also näher, als sich mittels demokratischer Willensbekundung einer undemokratischen Regelung zu entziehen. Sich aus einer Zwangsehe unbedingt durch eine einvernehmliche Scheidung verabschieden zu wollen, mutet mir zumindest irgendwie komisch an.
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