Am 27. Juli 2015 haben der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher und der Präsident der Region Lombardei Roberto Maroni, ein Einvernehmensprotokoll unterzeichnet, das unter anderem die Aufwertung des Gebietes um das Stilfser Joch vorsieht. Diversen Medien entnimmt man, dass dieses Protokoll einen Straßentunnel unter dem Stilfser Joch vorsieht. Kompatscher redet zwar von einem Eisenbahntunnel, trotzdem wirft das Einvernehmensprotokoll viele Fragen auf:
1. Der demokratiepolitische Aspekt
Warum wird überhaupt ein Einvernehmensprotokoll unterzeichnet, ohne die Materie vorher eingehend im Landtag, mit den betroffenen Gemeinden und der Bevölkerung zu besprechen? Eine neue Verkehrsachse unter dem Stilfser Joch ist jedenfalls ein immenser Eingriff, der nicht unter laufende Geschäftsführung fällt. Entspricht die Vorgehensweise dem Anspruch an Transparenz und neuem Politstil, den LH Kompatscher vor seiner Wahl im Jahre 2013 angekündigt hat?
2. Die Rolle der Makroregion Alpen
In der Mitteilung des Landespresseamtes vom 27.07.2015 wird Maroni wie folgt zitiert.
Das heutige Treffen sei von großer Bedeutung, weil es auch im Hinblick auf den Start der Makroregion EUSALP im kommenden Jahr wegweisend für die Zukunft sei, meinte Maroni. Ab 1. Jänner 2016 werden acht italienische und insgesamt 48 Regionen innerhalb des Alpenbogens in einer Makroregion für gemeinsame Ziele und die gemeinsame Nutzung von EU-Geldern zusammenarbeiten
Es ist jedenfalls nicht nachvollziehbar, dass die Südtiroler Landesregierung nicht verstärkt die schiefe Gleichgewichtslage erkennt, die der Makroregion Alpen zugrundeliegt. 70 Millionen Menschen leben in der Makroregion Alpen. Im eigentlichen Alpengebiet, das von der Alpenkonvention begrenzt wird, leben lediglich 15 Millionen Menschen. In der Makroregion Alpen dominieren die außeralpinen Metropolregionen die eigentlichen AlpenbewohnerInnen im Verhältnis 55 Millionen zu 15 Millionen.
Zu diesem schiefen Gleichgewicht gesellt sich im Falle von Südtirol eine nationalstaatliche Logik. Im Oktober 2013 haben sich die “italienischen” Regionen, einschließlich Südtirol versteht sich, vorab abgesprochen. Nicht mal auf der Ebene einer EU-Makroregion ist Südtirol imstande, die nationale Logik zu durchbrechen und für die Vorgespräche einen anderen als den nationalen Rahmen zu suchen. Beispielsweise Europaregion ergänzt durch Belluno und Graubünden.
Werner Bätzing, eine der wissenschaftichen Koryphäen im Bereich alpiner Entwicklung, äußert sich im Wochenmagazin ff vom 14.05.2015 wie folgt:
ff: Die Alpen werden zunehmend zur Peripherie, andererseits sind sie Abenteuerspielplatz für erholungsbedürftige Städter. Ist das nicht ein Widerspruch?
Werner Bätzing: Peripherie bedeutet ja gerade das. Die Bedürfnisse der Menschen, die vor Ort leben, spielen keine Rolle mehr, in die Peripherie lagere ich aus, wofür es in den Zentren keinen Platz gibt. Die Peripherie wird der Ergänzungsraum der Großstadt. Wir haben in den Regionen, die an die großen außeralpinen Metropolen anschließen, das stärkste Bevökerungswachstum im gesamten Alpenraum, da boomt es, weil sich dort viele Städter ansiedeln und die Einheimischen verdrängen, so dass die Wohnungspreise steigen. Eine andere Ergänzungsfunktion der Alpen ist, dass die Flächen, die unter Naturschutz gestellt werden – die EU verlangt ja, so und so viel Flächen unter Schutz zu stellen – natürlich nicht in den Metropolen, sondern im benachbarten Alpenraum ausgewiesen werden. Ins Gebirge verlagert man auch einen Großteil der Freizeit- und Sportmöglichkeiten. Das sind Monofunktionen, bei denen die Großstadt die Alpen als Ergänzungsraum nutzt und als Ergänzungsraum quasi zerstört. Das ist städtischer Imperialismus oder “Kolonialismus”, wie man in Italien oft sagt.
ff: Alpenbewohner leben fremdbestimmt?
Werner Bätzing: Die Fremdbestimmung ist einmal stärker und einmal schwächer ausgeprägt. In Südtirol ist die Fremdbestimmung vergleichsweise schwächer, weil es mitten im Alpenraum liegt, die Distanz nach Norden und nach Süden ist ein Schutz.
ff: Also sollte Südtirol schauen, Distanz zu wahren?
Werner Bätzing: Distanz ist eine große Chance für eine eigenständige Entwicklung. Damit der Raum auch der Wirtschaftsraum für die Menschen bleibt, die dort leben.
Werner Bätzing wirft eine Reihe von hochinteressanten Fragen auf, die dringend abzuklären und zu analysieren sind, bevor man salopp ein Einvernehmensprotokoll unterzeichnet, das Großprojekte im Sinne neuer Verkehrswege beinhaltet.
3. Verkehrstechnische Fragen
Laut verschiedenen Medien steht im Einvernehmensprotokoll nichts von einer Schienenverbindung ins benachbarte Veltlin, vielmehr soll explizit von einer Straßenverbindung die Rede sein. Die alte Idee der alpenquerenden Magistrale Ulm-Mailand läßt grüßen. Verkehrspolitisch eigentlich ein absolutes No-Go.
Doch auch eine Schienenverbindung wirft verschiedenste Fragen auf. In welchem Kontext wird eine Schienenverbindung unter dem Stilfser Joch lanciert? Als Insellösung? Dies ergibt wohl keinen Sinn und wäre höchstens als Treppenwitz zu verbuchen. Wenn es aber keine Insellösung ist, wie sieht es mit der Schienenanbindung von Tirano nach Bormio aus? Auch, wenn die Lombardei erklären würde, diesen notwendigen Lückenschluss im Schienennetz realisieren zu wollen, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese Hausaufgaben auch tatsächlich erledigt werden. Es wird in Erinnerung gerufen, dass zwischen Mendrisio (Tessin – CH) und Varese (Lombardei – I) 2008 der Bau einer Bahnverbindung beschlossen wurde. Neben der Funktion als Zulaufstrecke zur Gotthard- und Simplonstrecke soll damit eine Verbindung vom Tessin zum Flughafen Malpensa hergestellt werden. Der Schweizer Abschnitt wurde im Dezember 2014 wie geplant fertiggestellt, auf dem italienischen Teilstück steht wieder mal alles still.
Wenn man in der westlichen Landeshälfte über eine Bahnverbindung diskutiert, sollte man in erster Linie das Projekt einer Verbindung von Mals nach Scuol-Tarasp in Graubünden aufgreifen. Der Schweizer Kanton Graubünden erfüllt, so wie übrigens die gesamte Schweiz, seine eisenbahntechnischen Hausaufgaben schon seit Jahrzehnten vorbildhaft. Eine Bahnverbindung von Südtirol nach Graubünden würde nicht nur zwei Alpenregionen näher bringen in denen dieselben drei Amtssprachen gesprochen werden, sondern in der gesamten westlichen Landeshälfte die Verkehrsgeografie revolutionieren. Von Mals wäre man in 3 Stunden in Zürich, in 7 Stunden in Frankfurt oder Paris und in 8 Stunden in Köln, um nur einige Beispiele zu nennen.
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