In den Südtiroler Printmedien erschienen vor einer knappen Woche zwei Interviews mit großen Persönlichkeiten, die zum gleichen Thema diametral entgegengesetzte Botschaften vermittelten, obwohl beide in einigen ihrer Grundideen sogar ähnliche Auffassungen vertreten und sich auch persönlich kennen und schätzen dürften.
Die Rede ist vom Interview mit Reinhold Messner in der Südtiroler Tageszeitung vom 15.05.2015 und vom Interview mit Werner Bätzing im Wochenmagazin ff vom 14.05.2015.
Reinhold Messner ist der wohl renommierteste Alpinist aller Zeiten und mit Abstand bekannteste Südtiroler und Werner Bätzing eine Koryphäe der alpinen Forschung, der mit seinem Buch Die Alpen ein Standardwerk zur alpinen Regionalentwicklung geschieben hat.
Reinhold Messner äußert sich im Interview mit der Tageszeitung, wo es in erster Linie um eine Einschätzung zu den Gemeinderatswahlen geht, unter anderem zur Gesundheitsreform:
Reinhold Messner: […] Ich habe gesehen, wie sich die Sterzinger benommen haben, als im Rahmen der Sanitätsreform eine sachliche Entscheidung gefällt werden musste, die dann nicht gefällt worden ist. Dabei ist es eine Frage des italienischen Gesetzes, wie viele Ärzte etwa bei einer Geburt dabei sein müssen.
Tageszeitung: Harte Worte für den Bürgermeister Fritz Karl Messner…
Reinhold Messner: Er hat sich doch aufgeführt als stünde er über der Landesregierung. Mir ist das Ganze peinlich – nicht für die SVP, sondern für die Art und Weise, wie man inzwischen Dorfpolitik macht.
[…] Das Land darf aber keine Lösung finden, die Rom und Brüssel verbieten. Offensichtlich haben die Sterzinger nicht verstanden, worum es geht. Es gibt eine ganz klare Regelung, dass bestimmte Dienste im Sterzinger Spital nicht mehr gemacht werden können. Die Verluste in der Sanität werden ja nicht in Bozen gemacht, sondern in Innichen und Sterzing. So ist unser Sozialsystem bald nicht mehr finanzierbar. Rom versucht, das Sanitätswesen vor einem Zusammenbruch desselben rechtzeitig umzubauen.
- Reinhold Messner hat des Öfteren die Forderung erhoben, dass er sich selbstbestimmte SüdtirolerInnen wünscht. Wenn BürgerInnen Engagement beweisen, wie die BürgerInnen des Wipptals für das Bezirkskrankenhaus in Sterzing, dann wird dies aber kurzerhand dem Verhalten eines Mobs oder Pöbels gleichgesetzt.
- Erstaunlich, dass hier explizit das italienische Gesetz zitiert wird: In einer funktionierenden Autonomie hätte das italienische Gesetz zu diesem Thema reichlich wenig zu sagen. Auch wenn es juristisch tatsächlich eine Frage des italienischen Gesetzes ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass Südtirols BürgerInnen dies in vorauseilendem Gehorsam annehmen müssen und sollen. Ganz im Gegenteil, ein Verhalten wie in Sterzing wäre viel öfter wünschenswert. Südtirol würde dann vermutlich autonomiepoltisch auch wesentlich weiter sein, als es heute der Fall ist.
- Der Bürgermeister von Sterzing soll sich aufgeführt haben, als stünde er über der Landesregierung: Gegen ungewünschte Pläne übergeordneter politischer Hierarchien zu kämpfen ist Teil der politisch-demokratischen Dialektik. Soll alles, was von einer übergeordneten Ebene kommt, widerstandslos akzeptiert werden?
- Brüssel hat zum Thema Kleinkrankenhäuser keine einheitliche Vorstellung und in den einzelnen Mitgliedsstaaten gibt es sehr unterschiedliche Regelungen zu diesem Thema. Nicht was Rom (und Brüssel) will, soll und darf die Prämisse des politischen Handelns sein, sondern was gesellschaftlich wünschenswert ist.
- Warum glaubt Messner, dass die Verluste des Gesundheitswesens in Sterzing und Innichen gemacht werden? Die Kosten der Kleinkrankenhäuser sind im Vergleich zu den Gesamtkosten marginal. Diese Beträge könnten in Bozen relativ leicht eingespart werden. Ein hoher SVP-Altpolitiker antwortete mir auf die Frage, warum sich niemand an eine Reform und das große Sparpotential im Landeskrankenhaus in Bozen heranwagt lapidar: Weil dann der SVP der Koalitionspartner abhanden kommt.
- Rom versucht das Gesundheitswesen vor dem Zusammenbruch zu bewahren:
Da scheinen wohl einige Ebenen vermischt zu werden. Das Südtiroler Gesundheitswesen steht nicht vor dem Zusammenbruch, wiewohl es sicher großes Einsparungspotential gibt. Gerade Rom ist es, das die Südtiroler Volkswirtschaft in der Größenordnung von 2 bis 3 Milliarden Euro jährlich belastet. Aber anscheinend dürfen Vorgaben von Rom nicht in Frage gestellt werden. Dies zumindest scheint ein Grundtenor aus dem Munde einer von mir in vielen Bereichen sehr geschätzten Persönlichkeit wie Messner zu sein, der immer kritisiert hat, dass die SüdtirolerInnen während der Option nicht mehr zivilen Ungehorsam an den Tag gelegt haben und — wie er meint — ihre Heimat verraten haben.
Aus dem Interview mit Werner Bätzing im Wochenmagazin ff geht unter anderem hervor, dass die Zukunftsfähigkeit der alpinen Regionen, im Spannungsfeld von untereinander konkurrierenden, außeralpinen, metropolen Wirtschaftsräumen, auch davon abhängt, ob es gelingt, in der gesamten Fläche bestimmte Infrastrukturen aufrecht zu erhalten:
Werner Bätzing: […] Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hatte der Kapitalismus keinen Konkurrenten mehr, also braucht er auch keinen sozialen Deckmantel mehr. Seitdem herrscht das neoliberale Denken, das Konkurrenzdenken, man konzentriert sich nur mehr auf die großen Wirtschaftszentren.
ff: Was bedeutet das für die Peripherie?
Werner Bätzing: Dass die Staaten zum Beispiel diskutieren, ob sie ihre dezentralen Strukturen zurückfahren oder gar einstellen. In Deutschland wird zum Beispiel von “bedarfsgerechter Infrastruktur” gesprochen. Das klingt gut, bedeutet aber, dass die Infrastruktur in dünn besiedelten Räumen heruntergefahren wird. Ähnliches gilt für den Alpenraum. Doch dünn besiedelte Räume brauchen dezentrale Infrastrukturen: Arzt, Krankenhaus, Schulen, weiterführende Bildungsangebote. Es braucht sie, damit man im Alpenraum leben und wirtschaften kann […].ff: In Südtirol werden zum Beispiel Spitäler an der Peripherie verkleinert.
Werner Bätzing: Das ist der erste Schritt, und der nächste Schritt, so steht zu befürchten, ist die Schließung.
Hinter der Diskussion um die Kleinkrankenhäuser in den Südtiroler Bezirken steckt möglicherweise ein unbewusster Paradigmenwechsel, der die Leitlinien der künftigen SVP-Politik maßgeblich bestimmt. Einerseits haben wir eine (Dauer-)Phase der autonomiepolitischen Schwäche gegenüber Rom und andererseits eine Phase der Unsensibilität gegenüber den Südtiroler Landbezirken. Eine SVP, der es autonomiepolitisch zusehends nicht mehr gelingt “Distanz” zur nationalstaatlichen Dogmatik des Zentralstaates zu wahren. Mittlerweile verteidigt z.B. selbst der Landeshauptmann das Prinzip der “nationalen Solidarität”, wenn es um die Beteiligung Südtirols am Schuldenberg des Zentralstaates geht.
Die Unsensibiltät gegenüber den Landbezirken äußert sich auch in der unreflektierten Verwendung der Begrifflichkeit “Peripherie”. Unter Peripherie versteht man laut Werner Bätzing zusehends einen Ergänzungsraum, der nicht mehr über das volle Spektrum wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Vielfalt verfügt. Wenn wir aber gesellschaftlich nicht tragbare Ungleichgewichte zwischen Landeshauptstadt und Landbezirken vermeiden wollen, dann muss dafür gesorgt werden, dass die Landbezirke mehr sind, als reine Spielwiesen für Freizeitaktivitäten der Metropolregionen.
Derzeit verfügt Südtirol noch über diese Balance. Nicht umsonst verfügt z.B. Bruneck über einen höheren prozentuellen Anteil an Industrie als etwa Bozen, auch wenn der Pusterer Hauptort wirtschaftlich teils einseitig mit dem Kronplatz gleichgesetzt wird. Auch kulturell sind Südtirols Landgemeinden bis dato nicht ein Ergänzungsraum der Landeshauptstadt, sondern dieser in gelebter Mehrsprachigkeit und kultureller Innovation mindestens ebenbürtig. Ob dies auch in Zukunft so bleibt, hängt sehr stark mit der infrastrukturellen Ausstattung der Landbezirke ab.
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