Prof. Anton Pelinka sinniert in der Tiroler Tageszeitung über das Phänomen Separatismus. Pelinkas Analyse hat mich in zweifacher Hinsicht überrascht. Zunächst überrascht mich, dass er sich augenscheinlich vom linksliberalen Professor zu einem Konservativen gewandelt hat. Und zum Zweiten erstaunt es mich, dass er eine Argumentation verfolgt, die offenbar völlig ausblendet, was in den vergangenen 30 bis 40 Jahren in Europa geschehen ist. Ganz so, als hätte es die europäische Integration nie gegeben. In den 1970er-Jahren wäre so ein Text wohl zutreffend gewesen – aber heute?
Das ist das Gute an dem schottischen Ergebnis: Es verhindert den Missbrauch eines für sich genommen ehrenwerten Instruments – der Erklärung nationaler Unabhängigkeit. Damit ist die Gefahr für das transnationale Europa freilich noch nicht gebannt. Die anderen völkischen Gefahrenherde sind bekannt. Und wenn die Ostukraine das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nimmt, dann steht ein solches Recht wohl auch den Lombarden und den Sorben zu. Das aber wäre der Anfang vom Ende eines sich einigenden Europa.
Das “Wilsonsche System”, also das klassische “Selbstbestimmungsrecht der Völker”, hat doch mit der Bewegung in Katalonien und noch mehr mit jener in Schottland nicht das Geringste zu tun. Schottland hat sich weder auf dieses Recht berufen, noch wären die nach heutiger Auffassung notwendigen Voraussetzungen (innere oder äußere Bedrohung usw.) für die Ausübung dieses Rechtes gegeben. Zudem ist Schottland “freiwillig” die Ehe mit England eingegangen. Dieser “Ehevertrag” wurde nun auf freiwilliger Basis und einvernehmlich in Frage gestellt und in der Folge erneuert. In einer modernen Gesellschaft, wie der europäischen, sollte so etwas doch möglich und das normalste der Welt sein.
Das Unglück mit dem Selbstbestimmungsrecht beginnt ja schon damit, dass Wilson und andere es bewusst vermieden haben, zu definieren, was ein Volk ausmacht.
Der inklusivistische Ansatz, den sowohl Katalonien als auch Schottland verfolgen, ist ein weiterer Beweis, dass es hier nicht um jenen Nationalismus geht, auf dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker fußt. Daher stellt sich auch überhaupt nicht die Frage, wer oder was ein Volk ist. Schottland beanspruchte sein Recht nicht auf Basis einer vermeintlichen ethnisch-völkischen Homogenität, sondern es versteht die Selbstverwaltung als kollektives demokratisches Recht eines Territoriums. Dementsprechend ist Schotte, wer in Schottland lebt. Bei der Abstimmung waren Australier, Pakistani, Inder, Deutsche, Italiener, ja sogar Engländer, die in Schottland leben, abstimmungsberechtigt, während gebürtige Schotten, die derzeit nicht in Schottland wohnhaft sind, von der Abstimmung ausgeschlossen waren. Salmond spricht auch so gut wie nie von “Scots” sondern nahezu immer von “the people of Scotland”. Dies unterstreicht den territorialen und nicht ethnischen Charakter der linksliberalen und grünen schottischen Unabhängigkeitsbewegung. Katalonien agiert nach derselben Logik.
Für viele wäre die Loslösung Schottlands von seiner Union mit England, Wales und Nordirland der Fall eines Dominosteines, der andere mitreißen und damit das gesamte Projekt der Integration Europas gefährden hätte könnte.
Überdies sind Katalonien und Schottland explizit europa- bzw. EU-freundlich. Sie wollen beide nicht, dass die europäische Integration zurückgefahren oder gar gestoppt wird. Im Gegenteil. Warum die Verschiebung einer Verwaltungsgrenze das Ende der europäischen Integration bedeuten würde, erschließt sich mir daher überhaupt nicht. Vielmehr glaube ich, dass die derzeitige Systemkrise der EU eine Folge des Festhaltens an den Nationalstaaten (große Flächenstaaten) und somit an den bestehenden Grenzen ist. Diese Starrheit hat uns in eine existenzbedrohende Krise geführt. Das “Risikoargument” mutet lächerlich an, angesichts der Situation, in die uns die Beibehaltung des Status Quo gebracht hat. Ist es wirklich so abwegig und kamikazehaft, neue Wege für Europa zu suchen? Alles, was von einer nationalstaatlichen Logik wegführt – und das tun sowohl Schottland als auch Katalonien – ist positiv für die europäische Integration und ein Fortschritt. Wir haben im Moment den bizarren Fall, dass den europafreundlichen Schotten von der EU gedroht, während der europafeindliche Cameron in seinem Kurs unterstützt wurde. Jener Cameron, der in zwei Jahren ein Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU abhalten könnte (was freilich legitim ist). Die einzigen, die der EU diese Abstimmung retten würden, wären wahrscheinlich die Menschen in Schottland. Gewinnen hingegen trotzdem die Austrittsbefürworter fliegt Schottland mit aus der EU, nicht weil es beim Referendum mit Ja, sondern weil es mit Nein gestimmt hat. Das ist paradox.
Wenn die Krim gegen den Willen der Ukraine von Russland annektiert werden darf, dann beflügelt dies auch andere nationalistische Phantasien; dann bekommen revisionistische Parolen von der Verschiebung von Grenzen oder vom Abbau der Rechte von Minderheiten Aufwind. Und immer darf man sich auf das Recht auf “Selbstbestimmung” berufen.
Alle Selbstbestimmungsbestrebungen daher in einen “ethnischen Topf” zu werfen und mit der Krim zu vergleichen, ist absurd. Das wäre gerade so, wie wenn ich sagen würde: “Wir sollen Wahlen veranstalten? Niemals! Das könnte einen Dominoeffekt auslösen. Seht ihr nicht, dass es bei den Wahlen in Afghanistan zu Gewaltakten gekommen ist. Wollt ihr das?”. Eine derartige Argumentation wäre ähnlich redlich, wie sie Pelinka an den Tag legt.
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