Wenn in einem Artikel im Vorspann von “sezessionistischen Träumen” die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass der Beitrag tendenziös ist. Politische Positionen als “Träumerei” abzutun, ist eine gängige Praxis um eine Meinung zu delegitimieren und die Überlegenheit der eigenen “realistischen” Ansicht zu untermauern.
Der Politologe Günther Pallaver kommt in besagtem Stol-Artikel alsdann zum Befund:
Eine Mehrheit im Südtiroler Landtag für eine Selbstbestimmung Südtirols ist unrealistisch.
Diese Aussage ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich — insbesondere da sie von einem Politikwissenschaftler stammt, der normalerweise objektiv, neutral und differenziert argumentieren und sich nicht vor den parteipolitischen Karren spannen lassen sollte:
- Realismus ist keine politische Kategorie. Die Welt, in der wir leben, ist a priori unrealistisch und unwahrscheinlich, gleichzeitig jedoch real. Indiens Unabhängigkeit, der Fall der Berliner Mauer, die Wahl Obamas oder auch die nunmehrige Abstimmung in Schottland waren in diesem Sinne extrem unrealistisch. Aber das ist irrelevant. Folge ich Pallavers “Expertenaussage” bedingungslos, wird sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Tu ich das nicht, könnte passieren, was in Katalonien passiert ist.
- Die Mehrheit im Südtiroler Landtag ist nämlich keine stabile, gottgegebene Größe. Seit 1998 ist die Zahl jener Landtagsabgeordneten, die (offiziell) eine Abstimmung über den zukünftigen institutionellen Rahmen Südtirols fordern von drei auf mindestens elf gestiegen — rechnet man Brigitte Foppa dazu, die sich unter gewissen Bedingungen eine Abstimmung vorstellen kann (“Die Grünen als basisdemokratische Partei können sich nicht gegen ein eventuelles Referendum aussprechen.”), sind es sogar zwölf. Gut ein Drittel der 35 Abgeordneten ist also dezidiert für die Selbstbestimmung. Die SVP (17 Abgeordnete) hingegen hat den Selbstbestimmungsgrundsatz nach wie vor in der Satzung stehen (obwohl sie diesen per Landtagsbeschluss bereits einmal sogar grundsätzlich abgelehnt hat). 28 von 35 Abgeordneten gehören demnach derzeit Parteien an, die die freie Entscheidung der Südtiroler Bevölkerung über ihre staatliche Zugehörigkeit prinzipiell befürworten. In Katalonien hat die autonomistische CiU bis 2012 wie die SVP von Selbstbestimmung nichts wissen wollen. Aufgrund des gesellschaftlichen Drucks folgte ein Schwenk in Richtung pro Abstimmung.
- Pallaver bestätigt durch seine Aussage somit, dass die SVP der Garant für die Zugehörigkeit Südtirols zu Italien ist.
- Im 21. Jahrhundert könnte, ja müsste man das Recht auf Selbstbestimmung nicht als antiquiertes und ethnisch motiviertes “Völkerrecht” sondern als demokratisches Bürgerrecht verstehen, das sich nicht völkisch sondern territorial definiert. Die Schotten tun nämlich genau das. Gebürtige Schotten und britische Staatsbürger, die nicht in Schottland leben, sind nicht abstimmungsberechtigt. Alle EU- und Commonwealth-Staatsbürger, die in Schottland leben, hingegen schon. Mit dem Wilson’schen System des Selbstbestimmungsrechts der Völker hat dieses territoriale Verständnis wenig zu tun. Ein solcher Wahlmodus ist überdies das Gegenteil von Nationalismus und ist jenem der meisten anderen Staaten Europas um Lichtjahre voraus.
Dem Landeshauptmann persönlich bleibt es dann vorbehalten, den “Klassiker” unter den Totschlagargumenten loszuwerden:
Die Situation in Schottland ist mit Südtirol nicht vergleichbar.
Wenn es um befürchtete negative Auswirkung des Selbstbestimmungsprozesses geht, sind für Selbstbestimmungsgegner die einzelnen Situationen meist sehr wohl vergleichbar. Da werden die Krim und der Balkan mitunter in einem Atemzug mit Südtirol, Schottland und Katalonien genannt. Auch wird die Südtirolautonomie immer wieder als Vorbild für das – ach so vergleichbare – Tibet und andere ferne Regionen gepriesen. Kommt dann jedoch jemand auf die Idee, den demokratischen Prozess in Schottland oder Katalonien als musterhaft für Südtirol (wenn nicht für ganz Europa) zu bezeichnen, sind die Umstände auf einmal nicht mehr vergleichbar. Dabei kommt es ja gar nicht auf die — zugegeben recht unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen — Voraussetzungen an, sondern auf die Vorbildwirkung eines lupenreinen basisdemokratischen Prozesses.
In diesem Sinne ist auch Kompatschers zweite Aussage irrelevant:
Im Gegensatz zu London ist die Regierung in Rom dagegen.
Erstens war die Regierung in London auch nicht von Beginn an für eine Abstimmung bzw. war sie nicht gezwungen, sich in dieser Hinsicht zu äußern, bevor nicht Schottland explizit die Abhaltung einer Abstimmung forderte. Südtirol hat noch nie eine derartige Forderung gegenüber Rom gestellt. Darüber zu spekulieren, wie Rom reagieren würde, ist müßig. Der selben Logik folgend, müssten wir auch nicht mehr wählen gehen, denn die SVP erringt ohnehin die Mehrheit der Stimmen.
Zweitens könnte sich ein demokratisches Land wie Italien nicht auf Dauer dem mehrheitlich geäußerten Willen eines Teils seiner Bevölkerung widersetzen. Tut es dies doch, ist es kein demokratisches Land. Was ein zusätzlicher Grund wäre, sich von solch einem Land loszusagen. Die Akzeptanz einer derartigen Abstimmung ist somit keine Frage des Rechts, sondern eine der demokratischen Kultur und des politischen Willens. Gesetzt den hypothetischen Fall, Katalonien würde sich mit 90-prozentiger Mehrheit für die Unabhängigkeit von Spanien aussprechen: Mit welcher demokratisch rechtfertigbaren Begründung ließe sich dann ein anachronistischer Verfassungsgrundsatz wie jener der “Einheit des Staates” aufrechterhalten? Oder wie Paul Köllensperger es ausdrückte:
Wenn das aktuelle Thema die Zukunft Südtirols innerhalb Italiens ist, dann ist es wichtiger, diese Debatte zu führen, als darüber zu diskutieren, ob wir die Debatte führen dürfen.
Im Anschluss an Kompatschers Totschlagargument diagnostiziert Pallaver abermals völlig abstrus (sorry Günther!).
Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, auf der der Selbstbestimmung und jener der Autonomie. Wenn man die Sezession fordert, braucht man nicht mehr nach Rom verhandeln fahren.
Ungeachtet dessen, dass Rom ohnehin in jüngster Zeit jedes Verhandlungsergebnis ignoriert, spricht überhaupt nichts dafür, dass dem notwendigerweise so sein muss, wie Pallaver meint. Bestimmt gab es auch in Schottland Stimmen in Richtung Salmond: “Du riskierst unsere Autonomie, wenn du jetzt die Unabhängigkeit forderst”. Schottland forderte die Unabhängigkeit dennoch und wird bei einem Nein der Bevölkerung Autonomie in bisher nicht gekanntem Ausmaß erhalten (Stichwort Devomax). Selbst Tage vor der Abstimmung übertreffen sich die Regierungsvertreter in London mit Angeboten. Katalonien, das die Sezession ohne Einverständnis Spaniens anstrebt, wird ebenfalls mit Autonomie-Zuckerln gelockt, auf dass es seinen sezessionistischen Kurs aufgeben möge. Der Vergleich ist zwar völlig unangebracht, aber sogar die im Kriegszustand befindliche abtrünnige Ostukraine erhielt unlängst ein weitreichendes Autonomieangebot von den Machthabern in Kiew.
Zum Abschluss des Artikels serviert Pallaver noch eine nationalistische und demokratiepolitische Perle:
In Südtirol gilt zudem, dass es bei sensiblen Themen von allen Volksgruppe (sic) eine Mehrheit braucht und nicht eine Volksgruppe die andere überstimmen darf. Und es ist nicht einmal gesagt, dass die deutschsprachige (sic) Sprachgruppe mehrheitlich für eine Abspaltung wäre.
Erstens sind die “Volksgruppen” — wie auch Pallaver erkennt — in ihrem Abstimmungsverhalten nicht 100-prozentig homogen. Zweitens ließe sich eine nach “Volksgruppen” getrennte Abstimmung nur aus einer nationalistischen Logik heraus rechtfertigen. Für einen Antinationalisten ist die Frage der staatlichen Zugehörigkeit eine Sachentscheidung wie jede andere auch. Drittens ist komplett irrelevant, wie sich die Südtiroler deutscher Muttersprache mehrheitlich entscheiden würden. Selbstbestimmung heißt, dass sie entscheiden dürfen — und zwar frei. Viertens muss das Thema nach einer Abstimmung nicht notwendigerweise für immer vom Tisch sein (Stichwort Québec). Fünftens wurde in Südtirol — nicht zuletzt aufgrund der konstanten angstmacherischen Beteuerungen der “Realisten” in den Mainstreammedien — noch nie eine demokratisch gleichberechtigte und ergebnisoffene Diskussion zu diesem Thema zugelassen. In Schottland lag die Zustimmung zur Unabhängigkeit 2012 meist noch unter 30 Prozent. Selbst vor einem Monat (!) lagen die Separatisten laut Umfragen noch unter 40 Prozent. Es ist der demokratischen politischen Debatte geschuldet, dass sich dieser Wert in nur knapp vier Wochen um 10 Prozentpunkte erhöht hat.
Von Schottland und Katalonien geht jener frische demokratische Wind aus, den die Europäische Integration so bitter nötig hat. Umso befremdlicher ist es, dass die EU den europafreundlichen, gemäßigten bis sozialdemokratischen und grünen Kräften in Schottland und Katalonien droht, während sie den Kurs jenes Landes unterstützt, in dem die xenophobe, chauvinistische und europafeindliche UKIP bei den Europawahlen die relative Mehrheit erlangte und das offen über einen EU-Austritt nachdenkt. Der inklusivistische Ansatz, den Schotten und Katalanen verfolgen, ist der Anfang vom Ende der Nationalstaaten, die das europäische Projekt lähmen, ja sogar torpedieren. Während im Norden und im Süden moderne gesellschaftspolitische Antworten auf die Systemkrise der EU gesucht werden, übt sich die “Elite” Südtirols weiterhin mithilfe aberwitziger Totschlagargumente in Diskussionsverweigerung. Demokratie sieht anders aus.
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