In der Süddeutschen Zeitung vom 29.03.2014 provoziert Stefan Ulrich mit einem Vergleich zwischen Südtirol und der Krim. Er ersetzt die Krim kurzerhand durch Südtirol, die Ukraine durch Italien und Russland durch Österreich. Klingt alles absurd. Ist es auch, sollte man meinen. Ziel der Übung: Wohl ein Vergleich zwischen innereuropäischen Unabhängigkeitsbestrebungen und den Vorgängen in der Ukraine.
Die EU hat den Umgang unter den Mitgliedsländern zivilisiert, sie sorgt für einen gemeinsamen Markt und die NATO sorgt für militärische Sicherheit. Warum also sollte eine nach Unabhängigkeit strebende Region zur Zugehörigkeit zu einem bestimmten Nationalstaat gezwungen werden? Warum sollte es nicht möglich sein, dass Katalonien, Schottland oder Südtirol als souveräne, unabhängige Regionen weiterhin Mitglied der EU bleiben und der Prozess, der den Weg dorthin ebnet, von höchster EU-Ebene definiert und begleitet wird?
Das Prinzip der Unantastbarkeit der nationalstaatlichen Grenzen scheint eines der letzten europäischen Tabus zu sein.
Stefan Ulrich glaubt, dass die nach Sezession strebenden europäischen Regionen mit einem Drei-Ebenen-Modell beruhigt werden könnten: Ebene 1 – die EU, Ebene 2 – die heutigen Nationalstaaten und Ebene 3 – die Regionen.
Eine Antwort darauf, warum Regionen, die innerhalb der EU souverän und unabhängig sein möchten überhaupt eine zweite Ebene benötigen, gibt er nicht. Möglicherweise kann sich der Autor einfach nicht vom Konzept der nationalstaatlichen »Solidargemeinschaft« lösen. Auch deshalb wird das Solidaritätsargument ins Spiel gebracht. Es scheint mittlerweile so zu sein, dass jede nach Unabhängigkeit strebende Region sich entweder verhöhnen lassen muss, wenn die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit nicht eindeutig ist, oder der mangelnden Solidarität bezichtigt wird, wenn ein hoher Nettoüberschuss an den Zentralstaat wandert.
Für Stefan Ulrich ist im Falle von Venetien, Südtirol, Katalonien und Schottland vor allem letzteres der Fall: Mangelnde Solidarität, die nach einer erfolgten Unabhängigkeit umso größere soziale Verwerfungen in Spanien, Italien oder Großbritannien hinterlassen würde.
Ökonomisch ist dieses Argument in keiner Weise belegt. Selbständigkeit erzeugt ein neues Niveau an Eigenverantwortung. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Sizilien oder Sardinien ohne den Zentralstaat ökonomisch besser leben würden als heute. hat sich zudem immer für einen innereuropäischen Finanzausgleich ausgesprochen, der klaren Regeln und Zielsetzungen folgen muss. Der Nettoüberschuss Südtirols an den Zentralstaat folgt dagegen weder klaren Regeln, noch dient er irgendeiner nachvollziehbaren Zielsetzung. Zudem setzen die Summen, um die es mittlerweile geht, die Zukunft Südtirols aufs Spiel.
Einige Zahlen:
- Südtirol (Einwohner: 0,5 Mio., BIP: 18,5 Mrd.) dürfte heuer einen Nettoüberschuss von 1,5 Milliarden Euro an den Zentralstaat überweisen. Die volkswirtschaftliche Gesamtsituation Südtirols dürfte sich aufgrund der steigenden italienischen Staatsverschuldung sogar um über 2 Milliarden Euro verschlechtern.
- Bayern (Einwohner 12,5 Mio., BIP: 488 Mrd.) zahlt innerhalb des deutschen Länderfinanzausgleichs 2013 eine Summe von 4,3 Milliarden Euro. Dagegen will der Freistaat rechtlich vorgehen.
- Die Staatsverschuldung Griechenlands betrug 2011 355 Milliarden Euro. Seither folgt ein Rettungspaket nach dem anderen. Warum mag nicht (z.B.) Deutschland die griechischen Schulden in vier bis fünf Jahren vollständig abzahlen? Je nachdem, wie wir rechnen, entspräche der Südtiroler Beitrag von 1,5 Milliarden Euro an den Zentralstaat ca. 85 Milliarden Euro, die Deutschland an Griechenland überweisen würde. In 4 bis 5 Jahren wäre Griechenland schuldenfrei — als Akt der europäischen Solidarität könnte man dies doch verlangen dürfen? Südtirol überweist auf seine Wirtschaftskraft bezogen diesen Betrag an den Zentralstaat und muss sich dafür noch vorschreiben lassen wo und in welchem Ausmaß gespart werden soll.
A propos Einsparungen: Im Gesundheitsbereich sollen in Südtirol heuer 40 Millionen Euro eingespart werden. Der Ärztegewerkschaft ANAAO fällt zu diesem Thema nichts besseres ein, als die Schließung der Krankenhäuser in Innichen, Sterzing und Schlanders zu fordern. In einer Woche überweisen wir den Betrag von 40 Millionen Euro ohne jegliche Gegenleistung an den Zentralstaat. Daran etwas zu ändern fällt der zentralistischen, nicht selten nationalistisch angehauchten Gewerkschaft ANAAO nicht ein.
Das Ökonomische, so wichtig es auch ist, sollte jedoch nicht den Blick auf andere zentrale Themen verschleiern. Stefan Ulrich warnt vor dem Streben nach neuen völkisch fundierten Nationalstaaten. Dies wäre tatsächlich ein fataler Ansatz. Doch gerade die bestehenden Nationalstaaten haben bisher vielfach wenig Sensibilität für die sich von der Titularnation unterscheidenden Regionen entgegengebracht. Gerade deshalb besteht die große Chance einer europäischen Weiterentwicklung darin, dass der Kontinent vor allem an den Bruchlinien der Nationalstaaten neu entsteht und zusammenwächst. Ein Zusammenwachsen durch neue, mehrsprachige, nicht nach nationalen Kriterien definierte, unabhängige und in Europa eingebettete Regionen. An den nationalstaatlichen Bruchlinien, wo viele willkürlich gezogene Grenzen noch nie viel Sinn machten kann für Europa ein neuer Mehrwert entstehen, der vor 100 Jahren zerstört wurde. Die nach Unabhängigkeit strebenden Regionen an den Bruchlinien müssen allerdings jeglichen »nationalstaatlichen« Versuchungen widerstehen.
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