Wie auch Thomas Benedikter bei seinem hervorragenden Vortrag in der Cusanus-Akademie erklärte (und bei der Podiumsdiskussion der Grünen wiederholte), ist der »Realismus« im Grunde keine politische Kategorie. Wie wahrscheinlich war es vor 100, 50, ja selbst vor 10 Jahren, dass die Welt heute genauso ist, wie sie ist? Der Wert dürfte gegen null tendieren. Angebliche Gewissheiten werden fortlaufend widerlegt:
- SVP-Sekretär Philipp Achammer hatte noch vor wenigen Monaten behauptet, London würde Schottland sicher niemals eine Abstimmung über die staatliche Unabhängigkeit gewähren. Genau das Gegenteil ist eingetreten: Premier David Cameron und First Minister Alex Salmond einigten sich kürzlich auf einen Termin — die schottische Bevölkerung darf 2014 bestimmen, ob sich das Land abspaltet.
- Noch vor nicht allzu langer Zeit war eines der Lieblingsargumente von Unionisten, man könne in der EU keine Binnengrenzen mehr verschieben. Dass dieser Hinweis heute seltener zu hören ist, verdanken wir ebenfalls den Schotten: Heute scheint niemand mehr anzuzweifeln, dass neue (Verwaltungs-)Grenzen auch innerhalb Europas entstehen können. Jetzt müssen Unabhängigkeitsgegner schon hinzufügen, dass dies — angeblich — nur im Konsens mit dem Zentralstaat geschehen kann. Eine neue Gewissheit.
Südtirol hat diesen Konsens mit Rom während der letzten Jahrzehnte niemals gesucht. Zugegeben: Dass es jemals einen geben wird, ist äußerst unwahrscheinlich, doch wer nicht spielt, kann nie gewinnen. - Als Kataloniens schwierige Wirtschaftslage bekannt wurde, frohlockten zahlreiche Unionisten: Das Land im Nordosten Spaniens habe sich als Vorbild für Separatisten über Jahre »gegessen«, wem der Magen knurre, der habe keine Zeit mehr für »Hirngespinste«. Genau das Gegenteil war, wie hier prognostiziert, der Fall: Am 25. November finden in Katalonien Neuwahlen statt, mit dem Ziel, vom Wähler ein Mandat für die Loslösung von Spanien zu erhalten. Die Katalanen geben sich auch nicht vorauseilend der »Wahrheit« geschlagen, die Unabhängigkeit sei nur im Konsens mit dem Zentralstaat zu erreichen, sondern setzen auf die Kraft eines friedlichen, demokratischen Prozesses.
Das sind nur wenige Beispiele für eine grundlegende Erkenntnis: Realität ist nicht, sie wird gemacht. Und Politik folgt keinen unveränderlichen Naturgesetzen, sondern von Menschen erschaffenen, sich ständig wandelnden Regeln. Vielleicht setzt sich diese Einsicht irgendwann auch in Südtirol durch.
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