In der Gerichtsbarkeit hat Katalonien — wie Südtirol — noch immer massive Schwierigkeiten, die tatsächliche Gleichberechtigung der Landessprachen zu erreichen. Während Südtirols Politiker und Medien nur selten über die Grenze in die nahe und mehrsprachige Schweiz blicken, führte das katalanische Tagblatt Ara ein Gespräch mit dem soeben in den Ruhestand getretenen Schweizer Bundesrichter Niccolò Raselli. Er sei das lebende Beispiel, dass die Justiz, den nötigen Willen vorausgesetzt, mehrsprachig funktionieren kann. In der viersprachigen Konföderation werde die Verfahrenssprache mit territorialen Kriterien, aber mit einer gewissen Flexibilität und — wenn nötig — positiver Diskriminierung der kleineren Sprachgemeinschaften festgelegt.
Kann Justiz mehrsprachig sein?
Raselli: Selbstverständlich! Der Fall der Schweiz beweist es; es ist eine rein technische und keine identitäre oder politische Angelegenheit.
Wie funktioniert die Schweizer Justiz aus sprachlicher Sicht?
Man muss unterscheiden, zwischen der Bundesebene mit vier gleichberechtigten Sprachen und den Kantonen, die jeweils ihre Amtssprachen festlegen. Davon gibt es ein-, zwei und dreisprachige, doch in jedem Fall gibt es eine gewisse Flexibilität.
Welche Sprache wird für die Verfahren benutzt?
Das ist unterschiedlich. Im Kanton Bern gibt es zwei Amtssprachen, Französisch und Deutsch, und es gibt drei Distrikte, einen deutschsprachigen, einen französischen und einen zweisprachigen. Im deutschen und französischen Distrikt sind das auch die jeweiligen Verfahrenssprachen, und wo zwei Sprachen amtlich sind, können beide Sprachen benutzt werden.
Wie entscheidet man sich in mehrsprachigen Kantonen für eine Verfahrenssprache?
Es gibt einige Grundprinzipien, doch auf Bundesebene gibt es keine einheitliche Norm. Im Kanton Freiburg wird etwa immer die Sprache des Verteidigers gewählt.
Und wenn es keine Einigkeit über die Verfahrenssprache gibt, wer entscheidet dann?
Zuletzt entscheidet das Gericht, doch dagegen kann Widerspruch eingelegt werden, sowohl auf kantonaler wie auf Bundesebene.
Und was hat es mit der Flexibilität auf sich, die Sie erwähnten?
Bei Prozessen vor dem Bundesgericht wird im Prinzip die Verfahrenssprache des angefochtenen Urteils verwendet, doch manchmal werden Ausnahmen gewährt, wenn beide Seiten dieselbe Sprache sprechen. Wenn uns zum Beispiel ein Urteil aus dem Tessin vorliegt, das auf Italienisch verfasst wurde, aber beide Parteien deutscher Sprache sind, können wir den Prozess am Bundesgericht auch auf Deutsch führen. Das bundesgerichtliche Urteil wird dann aber in jedem Fall auf Italienisch verfasst.
Und das Rätoromanische wird bevorzugt behandelt?
Ja. Ein Beispiel: Graubünden hat drei Amtssprachen — Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch. Kürzlich wollte eine romanischsprachige Frau einen Prozess in ihrer Muttersprache führen, obschon diese Sprache in ihrer Gemeinde nicht zu den Amtssprachen gehörte. Zwar lehnte das Kantonsgericht diese Bitte zunächst ab, doch das Bundesgericht akzeptierte sie; am Bundesgericht gibt es einen Konsens, die kleineren Sprachen zu bevorzugen.
Heißt das, dass 99% der Schweizer vor Gericht ihre eigene Sprache benutzen dürfen?
Ja, und das bereitet keine großen Schwierigkeiten. Es ist ein Prinzip, das in fast jedem Fall respektiert werden kann.
Und die Schweizer Richter verstehen alle Sprachen?
Das ist wohl der größte Unterschied zu Spanien. In Spanien ist die Richterschaft auf staatlicher Ebene organisiert, während in der Schweiz die Richter von den Kantonsparlamenten gewählt werden. Nur die Bundesrichter werden vom Parlament in Bern designiert. Das garantiert, dass die in den Kantonen arbeitenden Richter sämtliche Sprachen ihres Zuständigkeitsbereichs beherrschen, weil sie auch in all diesen Sprachen ausgebildet wurden. Bei uns könnte sich zwar ein Genfer Richter am Basler Gericht bewerben, doch in der Praxis geschieht das fast nie.
Verstehen Sie, dass es in Katalonien ein Sprachproblem mit der Gerichtsbarkeit gibt?
Ja, da Sie in Katalonien zwar das Recht haben, sich in beiden Sprachen ans Gericht zu wenden, die Leute dort jedoch oft nicht beide Sprachen verstehen. Dass das ein Problem ist, liegt auf der Hand.
Wie glauben Sie, dass man es lösen könnte?
Ein möglicher Weg wäre, dass die Richter — oder wenigstens ein großer Teil der Richter — die in Katalonien ernannt werden, aus Katalonien stammen und ihre Ausbildung in beiden Sprachen absolviert haben. Andernfalls wird das Problem bestehen bleiben.
Quelle: Ara – Übersetzung von mir
Allein der Umgang mit den Sprachen in der Gerichtsbarkeit zeigt, wie grundlegend anders als in einem Nationalstaat dieses Thema in einem konstitutiv mehrsprachigen Land wie der Schweiz gelöst werden kann.
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