Leitartikel haben die Funktion eine Meinung oder einen Standpunkt zu erläutern. Gerade in Krisenzeiten zeichnet sich ein Leitartikel häufig durch seine kämpferischen und spannungsgeladenen Worte und Formulierungen aus — so zumindest laut Wikipedia.
Der Leitartikel der ff vom 26. Juli 2012 zeichnet sich neben schwergewichtigen Formulierungen vor allem durch eine wenig mit Fakten unterfütterte These aus. Der Leitartikel beginnt mit einem starken Zitat, das angeblich von Michail Gorbatschow stammen soll: “Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte”. Dass dieser häufig zitierte Satz in dieser Art und Weise öffentlich von Gorbatschow nie gesagt wurde, macht Leitartikler Dall’Ò nichts aus. Eine gediegene Recherche kostet Zeit, anscheinend zu viel Zeit für (diesen) ff-Leitartikel.
Der Aufhänger des Artikels ist das System der Konzessionsvergabe im Bereich der Wasserkraft. Das Land Südtirol spielt hier über die landeseigene SEL AG und die direkte Vergabe der Konzessionen bekanntlich Schiedsrichter und Spieler gleichzeitig, eine häufig kritisierte und rechtlich problematische Vorgangsweise. Dall’Ò nimmt den Fall SEL zum Anlass, das Land Südtirol als Krake zu bezeichnen:
Das Land Südtirol nahm sich alles, was es kriegen konnte – und wurde im Verlauf weniger Jahre zu einer Art Krake, die ihre Tentakel auf alle Bereiche der Gesellschaft ausbreitete. […] Es gibt in Südtirol wenig, das (noch) nicht von der Krake Land gefressen worden ist. Unglaublich, was es anscheinend so alles braucht, um den Schutz einer Minderheit zu gewährleisten: Fahrsicherheitszentrum, Flugplatz, Südtirol Marketinggesellschaft, Therme Meran, Sel AG und und und.
Kernpunkt seiner These ist, dass es versäumt wurde, das “glorreiche Autonomiestatut” den Erfordernissen einer Gesellschaft anzupassen, die heute eine ganz andere ist als damals, Anno 1972. Was diese neuen Erfordernisse sein könnten, darüber schweigt sich der Autor des Leitartikels aus, um den Leitartikel mit der Aussage zu krönen
Regierungschef Mario Monti mag im Umgang mit der Südtirolautonomie ungehobelt vorgehen. Aber er zeigt mit seinen Maßnahmen plötzlich auf, dass die Landes AG historisch überholt ist.
Dass die “ungehobelte Vorgangsweise” in Wirklichheit einen klaren Rechtsbruch darstellt, scheint Dall’Ò ebenso wenig zu interessieren, wie eine argumentative Unterfütterung seiner pauschalen Behauptungen. Dazu einige Feststellungen:
- Die gesamte Konstellation der Konzessionsvergabe im Bereich der Wasserkraft ist mehr als unglücklich. Schiedsrichter und Spieler gleichzeitig zu spielen geht in der Tat nicht und das Konstrukt Sel AG ist wohl eine der größten Niederlagen für den LH Durnwalder, auch wenn zuletzt Laimer seinen Stuhl räumen musste. Nichtsdestotrotz ist das Ziel, soviel wie möglich der Wertschöpfung aus der Wasserkraft dem Lande Südtirol zugute kommen zu lassen, nachdem römische Konzerne jahrzehntelang mehr oder weniger zum Nulltarif das Land plünderten, nicht nur als Wiedergutmachung zu verstehen, sondern auch volkswirtschaftlich von imminenter Bedeutung. Monti dürfte beides wenig interessieren. Aber über neoliberale Weltanschauungen, wem das Wasser gehört und dass der Energiebereich ein besonders sensibler Bereich ist, könnte man nächtelang diskutieren.
- Flughafen Bozen, Fahrsicherheitszentrum, Therme Meran und Sel AG — klassische Fehlentscheidungen und Beispiele einer unfähigen Verwaltung. Bei der von Dall’Ò angeführten SMG sieht die Sache schon anders aus. Volkswirtschaftlich ist der Tourismus ein Rückgrat der Südtiroler Wirtschaft. Eine professionelle Vermarktung gehört dazu. Über neue Finanzierungsmöglichkeiten wird gerade diskutiert.
Doch kommen wir zu den im Leitartikel angeführten, kostenintensiven Fehlentscheidungen des Landes Südtirols. Diese müssen thematisiert werden und in Zukunft vermieden werden. Aber diese Fehlentscheidungen gibt es auch in anderen Regionen und Ländern und im Gegensatz zu Sizilien, zu Griechenland und zu dem Staat, der uns nun anscheinend mit seinen Hau-Ruck-Methoden vor der “Krake Land” rettet, sind diese Fehlentscheidungen nicht systemrelevant (vgl. Spiegel Online vom 30.07.2012). - Die sogenannten Reformen von Mario Monti sind vielfach wenig durchdacht und vor allem in der Umsetzung entpuppen sie sich häufig als Stückwerk, das weder Rechtssicherheit noch ein klares Ziel erreicht. Der Gemeindenverband weiß heute noch nicht, wie die zweite IMU-Rate aussehen wird. Gut möglich, dass diese weit höher ausfällt, als ursprünglich angekündigt. Wenn es aus allen Löchern pfeift sind alle Mittel recht, mittelalterliche Raubrittermethoden eingeschlossen.
Die teils neoliberalen Maßnahmen entwickeln dann eine Melange mit gefährlicher Sprengkraft, wenn die hohe Steuerbelastung auf der Gegenseite keine funktionierenden, staatlichen Dienstleistungen aufzuweisen hat. Südtirol, das über einen ausgeglichenen Landeshaushalt verfügt und derzeit zu denselben Maßnahmen gezwungen wird, wie das überschuldete Italien, dürfte in den nächsten Jahren aufgrund Stabilitätspakt und sonstiger Vorgaben einige funktionierende und sinnvolle Dienste nicht mehr anbieten können. Ein ökonomischer Umgang mit öffentlichen Ressourcen ist immer angesagt, aber mittlerweile wird dem Land Südtirol eine neue, neoliberal beeinflusste Ideologie aufgezwungen. Es gibt durchaus Kreise, die damit sympathisieren und deshalb auf das Land Südtirol eindreschen und an den Hau-Ruck-Maßnahmen von Mario Monti Gefallen finden.
Über viele öffentliche Leistungen kann diskutiert werden. Wenn die Eckpfeiler der Südtiroler Gesellschaft, ohne eigenes Verschulden, angegriffen werden, wird es aber kritisch. Ein gut funktionierendes und durchlässiges Schulsystem, ein für alle BürgerInnen finanzierbares Gesundheitswesen und ein öffentliches Verkehrsnetz sind Beispiele für vorzeigbare und notwendige öffentliche Dienstleistungen. - Dall’Ò dürfte in seiner Abhandlung entgangen sein, dass das Land Südtirol, trotz einiger haarsträubender Fehlentscheidungen über einen ausgeglichenen Landeshaushalt verfügt und die meisten Bereiche weit besser verwaltet als der Staat.
Zudem dürfte Dall’Ò entgangen sein, dass das Land Südtirol in sehr vielen Bereichen über keinerlei Einfluss verfügt. Es wird zwar letzthin häufig so getan, als ob Südtirol über eine weitgehende Selbstverwaltung verfügt. Dies ist falsch. Südtirol verfügt unter anderem nicht über die Steuerhoheit, hat keine Landespolizei, kein eigenes Gerichtswesen oder keine Möglichkeit, die wesentlichen Eckpunkte der Wirtschaftsordnung oder Arbeitsgesetzgebung selbst festzulegen. Die von Mario Monti beschlossenen Reformen zeigen, dass die Dialektik “Staat-Land” nicht funktioniert. Nicht mehr zentralstaatlicher Einfluss ist die Lösung des Problems, sondern eine wirkliche, weitgehende Selbstverwaltung. Ein System der weitgehenden Selbstverwaltung reagiert auch weit weniger tolerant gegenüber Fehlentscheidungen und Geldverschwendung der Verwaltung.
In diesem Sinne kann ja jeder selbst den im Leitartikel falsch zitierten Satz “Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte” interpretieren und daraus für Südtirol wirklich zukunftsweisende Schlüsse ziehen.
Scrì na resposta