von Josef Prackwieser
Kurze historische Einführung
Nähe und Gegensätze kennzeichnen das Verhältnis der beiden ältesten monotheistischen Religionen, des Judentums und des Christentums, zueinander: Beide teilen sich zu einem gewissen Punkt dieselben heiligen Texte, dieselben Überlieferungsstränge und Traditionen, sie teilen sich schließlich dasselbe theologische Fundament. Doch diesen Gemeinsamkeiten steht eine hierin verwandte Gegensätzlichkeit gegenüber, die sich — gerade aufgrund der Nähe — in den Unterschieden der beiden Glaubensrichtungen intensiv Bahn bricht.
Das Christentum verstand sich lange Zeit als die rechtmäßige Nachfolgereligion, als Gemeinschaft des neuen Bundes (der den alten, jüdischen Bund mit Gott ablöst). Den Juden wurde dabei jedoch durch Paulus und Augustinus ein besonderer Status des Schutzes zuerkannt, denn ihr Volk legt “Zeugenschaft für die Wahrheit” der biblischen Prophetien ab; das heißt grob gesagt, dass es nach christlichem Verständnis die gemeinsamen Schrifttexte und -traditionen aufbewahrt. Nur über diesen Umstand ist die einzigartige Tolerierung einer anderen Religion innerhalb der abendländischen Christenheit des Mittelalters zu erklären. Die besondere Diasporasituation der Juden in Europa machte sie allerdings zu einer Minderheit, die stets der Willkür und den Launen der Mehrheit ausgesetzt war. Der Vorwurf des Gottesmordes, den Augustinus und andere Kirchenväter wirkungsmächtig erhoben, führte zu jenen, die Phasen der Toleranz unterbrechenden antijudaistischen Ausschreitungen, derer die europäische Geschichte bis in die Neuzeit hinein so voll war (die Ausschreitungen des 20. Jahrhunderts mögen zwar an derselben Wurzel anknüpfen, gründen aber bekanntlich in eine andere, rassische Ideologie). Soziale und ökonomische Marginalisierung, u. a. bedingt durch den christlichen Zunftzwang, kennzeichneten weiters ihren schweren Stand innerhalb der Gesellschaft. Es ist nun zwar dieses von Christen bestimmte Spannungsverhältnis der Tolerierung und der Erniedrigung, in dem sich jüdisches Leben in der europäischen Vormoderne entfaltete und abspielte. Dennoch darf man nicht dem Fehler erliegen, diese religiöse Minorität nur als bloßes Objekt der Majorität wahrzunehmen und zu behandeln, da man der historischen Realität dadurch wohl kaum gerecht wird. So verhandelten jüdische Gemeinden beispielsweise über einen Vertreter aus ihrer Mitte mit der Obrigkeit (mit Fürsten, Bischöfen, Stadträten, Äbten usf.), sie standen oftmals im Dienst von Herrschaftsträgern, berieten etwa Könige, Adelige oder gar Päpste — und nahmen dadurch indirekten Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse am Hof. Sie verliehen beträchtliche Geldsummen, etwa an die deutschen Kaiser, und machten dadurch oftmals überhaupt erst kaiserliche Politik in Europa möglich. Juden waren also ebenfalls Akteure — dies sowohl im “globalen” Maßstab, als auch im Mikrokosmos einer kleinen ostalpinen Durchzugsstadt.
Die Emanzipation der Juden im 18. und 19. Jahrhundert, bedingt u. a. durch die Strömungen der Aufklärung, führte erst allmählich zu einer Verbesserung der Lage, und war von intensiven, teils erbitterten, jetzt antisemitischen Debatten über (Volks-)Identität und Überfremdungsängsten in den entstehenden Nationalstaaten geprägt. Eine Diskussion übrigens, die der heutigen über Immigranten oder Ausländern nicht sehr unähnlich ist. Die (west)europäischen Juden emanzipierten sich dann aber tatsächlich – wenngleich sich hier die Frage aufdrängt, inwieweit dabei auch eine umfassende Assimilierung einherging – und erwarben sich in kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht große Verdienste (wie der geneigte Leser bestens weiß, und dies auszuführen sicher müßig sein dürfte). Die Welt um 1900, ihre Glanz- und Höhepunkte war schlechterdings ohne Juden nicht denkbar, und sie überdauerte sogar den ersten Weltkrieg, bis ihr der Terror des “Dritten Reiches” und der Shoah ein jähes und verheerendes Ende setzte. Jüdisches Leben in Europa erholte sich in der Nachkriegszeit erst sehr langsam — mancherorts gar nicht mehr, und gerade an diese sehr fragilen, fast schon unsichtbaren historischen Spuren sollte man erinnern.
Zu den Ausstellungen selbst
Unter dem Übertitel “Shalom aleichem”. Jüdische Lebensbilder aus Tirol – Storia di vita ebraica in Tirolo versucht sich nun erstmals eine breit angelegte Ausstellungsreihe daran, das jüdische Leben in unserer Region in seinen faszinierenden Facetten, über die Jahrhunderte hinweg, genauer zu beleuchten. Tirol beherbergte seit dem Mittelalter verschiedene jüdische Gemeinden, die sich besonders im Umfeld der Bozner Messen im Waren- und Münzgewerbe hervortaten, aber z. B. auch in Innsbruck, Trient und Meran Fuß fassten. In Bozen selbst lassen sich eine Judengasse, eine Synagoge und ein jüdischer Friedhof nachweisen. Die Juden gingen dem Beruf des Geld- oder Pfandverleihers nach, genossen als gutausgebildete Ärzte einen hohen Ruf, berieten auch hier Adelige und waren aufgrund ihrer Sprachkenntnisse (gerade an der Schnittstelle zweier Kulturen) sowie “internationalen” Vernetzung als Kaufleute erfolgreich. Diesem hochinteressanten Zeitabschnitt nähert sich ab dem 4. Mai die Ausstellung “Simon und Sarah in Bozen. Ein Tag, ein Jahr, ein Leben: Jüdische Präsenz in und außerhalb der Stadt bis zum 18. Jahrhundert – Simon e Sarah a Bolzano. Un giorno, un anno, una vita: la presenza ebraica in città e dintorni fino al XVIII secolo” auf Schloss Runkelstein.
Einem anderen Themenfeld widmet sich “Zachor. Juden im südlichen Tirol im 19. und 20. Jahrhundert – Ebrei nel Tirolo meridionale fra Otto e Novecento”¹ auf Schloss Tirol (ab dem 5. Juli), nämlich jener schon weiter oben angesprochenen, glanzvollen Periode jüdischen Engagements in der europäischen Gesellschaft. Jüdische Pioniere, Finanziers und Wegbereiter aus den anderen Teilen der Monarchie engagierten sich im aufkeimenden Fremdenverkehr Tirols, und trugen insbesondere in Meran zur Genese jener relativ kurzen, dafür von den Nachgeborenen umso verklärteren Epoche des Kurorts von Weltruf bei. Viel ließe sich über die illustren Gäste der Passerstadt berichten (und, so ist zu hoffen, in besagter Ausstellung auch zu erfahren), doch möchte ich noch kurz auf eine andere, dem eben Besprochenen sehr verwandte Schau der Reihe eingehen: In “Hast du meine Alpen gesehen. Eine jüdische Beziehungsgeschichte – Hai visto le mie alpi? Una storia d’amore ebraica”² (ebenfalls ab dem 5. Juli), ursprünglich im Jüdischen Museum Hohenems erstmals gezeigt (dann weitergezogen nach Wien, München und jetzt auf Schloss Tirol zu sehen), kann man sich über die enge Verbindung der Juden zu den Alpen informieren. Jüdische Touristen, Bergsteiger und Erholungssuchende, zumeist aus dem großstädtischen Bürgertum, waren die ersten, die sich im 19. Jahrhundert für die Bergwelt, ihre Kultur und Bewohner ernsthaft (man könnte auch sagen: ethnologisch) interessierten. Sie waren die ersten, die in den bisher armen und wenig einladend erscheinenden Gebirgsregionen urlaubten, in die Sommerfrische gingen – und alsbald den eigenen Bedürfnissen angepasste Fremdenverkehrsstrukturen (z.B. koschere Küche, Hotels, Kur- und Badeanstalten) aufzubauen begannen. Es ist überdies u. a. den mitteleuropäisch-jüdischen Intellektuellen, Schriftstellern und Komponisten zu verdanken, dass die schroffen Gebirgslandschaften in den Metropolen des Kontinents an romantisierender Bekanntheit gewaltig zunahmen. Vergessen werden in der Schau aber auch nicht die finsteren Seiten der Geschichte: Wie jäh der antisemitische Terror in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Lebenswelt der deutschen und österreichischen Juden einbrach, so traf er auch die Alpinisten. So verbot der berühmt-berüchtigte “Arierparagraf” den Juden – noch lange vor der sog. “Machtergreifung” oder gar dem “Anschluss”! – die Mitgliedschaft in den deutschen und österreichischen Alpenvereinen, der Zutritt zu Schutz- oder Skihütten war ihnen verboten.
Gespannt darf man sein, wie und ob speziell diese “Wanderausstellung” zugunsten der Eigenheiten Tirols und hier Südtirols adaptiert und modifiziert wurde, arbeiteten doch an der Gestaltung auch das Touriseum in Meran und das Landesmuseum Schloss Tirol (das als Initiator des Ganzen bezeichnet werden darf) selbst mit.
Flankiert wird dieser beeindruckende Ausstellungsreigen von einer ganzen Reihe kultureller und wissenschaftlicher Begleitveranstaltungen: Ausgangspunkt war die im November 2011 auf Schloss Tirol abgehaltene Tagung “Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol vom Mittelalter bis in die Gegenwart” (deren Akten im kommenden Herbst in einem Band veröffentlicht werden sollen). Die traditionellen Soiréen auf Schloss Tirol werden dieses Jahr u. a. von dem Klezmermusiker Giora Feidman (19. Juli) und der israelisch-österreichischen Sängerin Timna Brauer (2. August) bestritten. Stattfinden werden ebenfalls Lehrerfortbildungen in der Meraner Urania, Filmvorführungen sowie Literaturlesungen an Schulen und Diskussionsabende.
“Die jüdische Geschichte ist auch Tiroler Landesgeschichte”, meinte der Direktor des Landesmuseums Schloss Tirol, Dr. Siegfried de Rachewiltz, bei der Vorstellung der Initiative im Palais Widmann am 3. April, “mit diesen Veranstaltungen machen wir den Anfang zu ihrer Aufarbeitung.” Es bleibt zu hoffen, dass dieser ehrbaren Zielsetzung bald auch vonseiten anderer, am besten junger Historiker nachgeeifert wird.
1) Das hebräische “Zachor!” meint das jüdische Bekenntnis zur Erinnerung an den religiösen Ruhetag in der Woche (eigentlich: “Erinnere dich an den Sabbat”, oder: “Begehe den Sabbat!”). Allgemeiner aber benennt es auch pointiert die dem jüdischen Volk eigene Erinnerungskultur, eben überhaupt zu erinnern, zumal an Vergangenes. Es ist schließlich der ihm auferlegte Imperativ: Wider das Vergessen! (der religiösen Bräuche, der eigenen Geschichte, der Herkunft). Vergleiche hierzu.
2) Der Ausstellungstitel ist ein Zitat und stammt vom Begründer der modernen Orthodoxie in Deutschland, Rabbi Samson Raphael Hirsch (1808-1888). Dieser soll einmal gesagt haben: “Wenn ich vor Gott stehen werde wird der Ewige mich fragen: »Hast du meine Alpen gesehen?«”
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