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Lose-lose Situation.

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ai

Gestern hat der spanische Verfassungsgerichtshof (Tribunal Constitucional – TC) das neue katalanische Autonomiestatut von 2006 in Teilen außer Kraft gesetzt bzw. neu interpretiert. Das Urteil geht auf eine Eingabe der spanisch-zentralistischen Volkspartei (PP) zurück, die sofort nach Verabschiedung des Statuts deponiert worden war.

Der katalanische Präsident Montilla (PSC-Sozialisten) spricht davon, dass der TC 95% des Statuts bestätigt habe. Trotzdem habe der PP dem spanischen »Autonomismus« und der Würde Kataloniens nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt, weil Teile eines Statuts außer Kraft gesetzt wurden, das bereits mit dem Zentralstaat verhandelt und von der katalanischen Bevölkerung mittels Referendum bestätigt worden war.

Man könnte das als eine Lose-lose-Situation bezeichnen, in der die Zentralisten vor dem TC gescheitert sind — weil fast alle ihre Einwände abgewiesen wurden —, aber auch alle katalanischen Parteien mit dem Urteil unzufrieden sind und vehement dagegen protestieren. Selbst der katalanische Ableger des PP hat große Schwierigkeiten mit der Initiative seiner staatlichen Mutterpartei. Landesweit wurden spontan von unterschiedlichsten Parteien und Vereinen Protestkundgebungen organisiert oder angekündigt. Die größte davon wird am 10. Juli erwartet.
Außerdem ist damit zu rechnen, dass diese als marginal bezeichnete Zurechtstutzung der bereits erstarkenden Unabhängigkeitsbewegung noch einmal einen massiven Unterstützungszuwachs bringen wird.

In weiten Teilen — mit Ausnahme der Finanzierung — bleibt das katalanische Statut trotzdem wesentlich großzügiger und vor allem moderner als jenes Südtirols. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die spanische Politik heute mehrheitlich bereit ist, den Autonomien aus freien Stücken einen größeren Handlungsspielraum zuzugestehen, als die Verfassung offensichtlich hergibt.



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Comentârs

5 responses to “Lose-lose Situation.”

  1. pérvasion avatar

    Eine gute Zusammenfassung der Situation bietet die Madrider Tageszeitung El País:

    Montilla will Zapatero treffen, um das Statut zu erneuern

    Der Präsident des [katalanischen] Parlaments bezeichnet das Urteil »eine Staatskrise«. – »Wir entscheiden, wir sind eine Nation« ist der Slogan der großen Kundgebung vom 10. Juli

    Am Tag nach dem Urteil über das Autonomiestatut ist bereits die Strategie der katalanischen Regierung erkennbar. Der Präsident der Generalitat hat heute verlangt »den Autonomiepakt zu erneuern und den Verfassungspakt zu verstärken« und angekündigt, zu diesem Zwecke eine baldige Konferenz mit Regierungschef José Luis Rodrà­guez Zapatero zu beantragen.

    Nach der wöchentlichen Sitzung der katalanischen Regierung hat [Präsident] Montilla informiert, dass er die Einberufung einer Volksbefragung oder eines Referendums über das zurechtgestutzte Autonomiestatut ausschließt. Diese Forderung war von Mitgliedern seiner Koalition vorgebracht worden. »Das Urteil trägt nicht dazu bei, die Zuneigung und Freundschaft Kataloniens und Spaniens zu stärken«, unterstrich Montilla, der auch einige Worte für seine Kollegen des PSOE (spanische Sozialisten) parat hatte: »Ich habe mich nicht immer in guter Gesellschaft gefühlt«.

    Insgesamt hat Montilla versucht, einen konstruktiven Ton zu bewahren um klarzustellen, dass die Drohungen, den Verfassungspakt [die Grundlage der Koexistenz der spanischen Regionen] aufzukündigen, heute nicht angebracht sind. Mit dem PSOE einte ihn die Haltung, einzig den PP [konservative Volkspartei, welche den Rekurs gegen das Statut eingereicht hatte] und das Verfassungsgericht für das Urteil und seinen Inhalt verantwortlich zu machen. Die katalanische Regierung analysiert das Urteil noch im Detail, doch der Präsident der Generalitat hat bereits versichert, dass es kaum zu Änderungen von Gesetzen führen werde, welche die Regierung in Ausführung des Statuts bereits erlassen hat.

    Regierungsnahe Quellen aus Montillas Entourage versichern, dass das einzig Beunruhigende die Tatsache sei, dass es überhaupt zu einem Urteil gekommen ist. Tatsächlich werden die Einwände des Verfassungsgerichts weder den »vorrangigen« Gebrauch der katalanischen Sprache in der Verwaltung noch die Finanzierung kippen. Die übrigen Punkte, die aus dem Statut gestrichen wurden, können laut katalanischer Regierung auf anderen Wegen von der Zentralregierung erlangt werden.

    Nach dem gestrigen Urteil beginnt sich der Zeitplan für die kommenden Tage abzuzeichnen. Eine große Kundgebung zur Verteidigung des katalanischen Statuts, welche von Parteien, Gewerkschaften und Vereinen organisiert wird, soll am kommenden Samstag, den 10. Juli unter dem Slogan »Wir entscheiden, wir sind eine Nation« stattfinden. Die Veranstaltung, die von der katalanistischen Vereinigung Omnium koordiniert wird, beginnt um 18 Uhr an der Kreuzung zwischen Diagonal und Passeig de Grà cia in Barcelona. Der Präsident des [katalanischen] Parlaments, Ernest Benach, hat erklärt, dass die außerordentliche Sitzung des Parlamentsvorsitzes heute morgen beschlossen hat, sich dem Aufruf zu einer breiten Bürgerkundgebung, der bereits zuvor vom Präsidenten Montilla ausgegangen war, anzuschließen. Der ehemalige Präsident der Generalitat, Pasqual Maragall, hat wie sein Nachfolger Montilla angekündigt, sich an der Kundgebung beteiligen zu wollen.

    Die Reaktionen

    PSC (katalanische Sozialisten): Die katalanischen Sozialisten haben ihr Vertrauen in die spanische Schwesterpartei PSOE bestätigt, haben jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass sie die Umsetzung des gesamten Statuts, auch der gerichtlich gestrichenen Teile, garantieren müssen.

    CiU (katalanische Zentrumspartei): Die Vorsitzenden von CiU, Artur Mas und Josep Antoni Duran i Lleida, haben das Urteil des Verfassungsgerichts abgelehnt. Beide Leader traten nach einer Vorstandssitzung vor die Presse. Mas erklärte, dass CiU eine dringende Plenarsitzung des [katalanischen] Parlaments beantragen wir, da das neue Statut dort entstanden ist und dort »in einem Plenum unsere möglichst einhellige Ablehnung dieses Urteils zum Ausdruck gebracht werden muss«. Beide CiU-Vertreter haben sich auch an die katalanische Bevölkerung gewandt und angekündigt, sich an jeder Protestaktion beteiligen zu wollen »um unsere Stimme auch auf den Straßen deutlich zu erheben. Wir müssen unsere Ablehnung dagegen zeigen, dass ein Urteil einschränkt, was das katalanische Volk beschlossen hat«. Duran hat PSOE und PP für die Beschneidung des Statuts verantwortlich gemacht.

    ERC (Republikanische Linke Kataloniens): Der ERC-Präsident, Joan Puigcercós, hat ausgeschlossen, das Urteil zu akzeptieren und erklärt, dass die Zurechtstutzung das Scheitern von CiU und PSC besiegelt, da sie die Hauptakteure dieses Abkommens mit der Zentralregierung waren. »Für uns ist klar, dass wir nur den Willen der katalanischen Bevölkerung akzeptieren«, unterstrich Puigcercós.

    Parlament: Der Präsident des [katalanischen] Parlaments, Ernest Benach, hat erklärt, dass das Verfassungsgerichtsurteil seiner Auffassung nach eine »Staatskrise« einleitet, weil es »den Willen der Bevölkerung ignoriert«.

    Stadt Barcelona: Der Bürgermeister von Barcelona, Jordi Hereu (PSC), hat ein außerordentliches Plenum für diesen Donnerstag einberufen, damit der Gemeinderat seine Unterstützung für das Statut erkläre. Außerdem hat er allen Gemeindeverwaltungen Kataloniens angeboten, eine gemeinsame Protestkundgebung der Kommunen zu organisieren.

    [Übersetzung: BBD]

    Energie und Willensstärke der Katalanen sind wieder einmal erstaunlich. Obwohl es vordergründig um das Prinzip geht, dass ein Gericht nicht den Willen der katalanischen Bevölkerung einschränken soll — das Urteil selbst hat, wie El País berichtet, praktisch keine konkreten Auswirkungen auf die Autonomie — kommt es zu derart starken Reaktionen der Zivilgesellschaft und der Politik. Man will einen Dammbruch verhindern.

    Dagegen nehmen die Südtiroler Bevölkerung und deren gewählte Vertreter die fortwährende Beschneidung der autonomen Zuständigkeiten durch das italienische Verfassungsgericht größtenteils apathisch zur Kenntnis.

  2. hansi avatar
    hansi

    In weiten Teilen — mit Ausnahme der Finanzierung —

    Dies ist der Punkt der aus Südtiroler Sicht alles erklärt. Darum reagiert unsere Elite so apathisch, wenn es um den Ausbau der Autonomie bzw. die Unabhängigkeit geht.
    Oder was meint ihr denn? Wer im Elfenbeinturm lebt, materiell und finanziell übersättigt ist, bei dem fallen halt im selben Ausmaß sämtliche Grundwerte.
    Italien stattet “unsere” Eliten finanziell so gut aus, dass ihnen grundlegende Sachen wie historische Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung der Sprachen bei Lebensmitteln usw., beinahe egal sind. Die Antwort “unseres” MEP in Brüssel beim letzten Beitrag hat genug Aussagekraft diesbezüglich.
    Wenn man ein bissl um die Welt kommt und den Leuten erklärt, dass Südtirols Politiker (das Land hat 500.000 EW und ist kein eigener Staat!) mehr verdienen als die Abgeordneten in Washington, fallen sie aus allen Wolken.
    Es ist wirklich traurig, mit welchem Lohn hier in Südtirol eigene europäische Grundrechte (z.B. eben was das Recht auf Muttersprache bei Lebensmitteln anbelangt) verkauft werden.
    Man muss sich vorstellen welchen Ausmaß diese Verkaufte Heimat bereits angenommen hat.

  3. Lex avatar
    Lex

    Hochbezahlt nichts auf die Reihe kriegen. Die Einfallslosigkeit unserer politischen Elite ist etwas vom peinlichsten, wenn man das mit der Reaktionsfähigkeit der Katalanen vergleicht. Möchte sehen ob sich unser Landtagspräsident oder der LH gegen die Einschnitte an unsrer Autonomie jemals von ihrem warmen Sessel auf die Straße bequemen werden. Montilla & Co. tun das für die Würde ihres Volkes, Respekt!

  4. Talex avatar
    Talex

    die fortwährende Beschneidung der autonomen Zuständigkeiten durch das italienische Verfassungsgericht

    kannst du Beispiele dafür nennen?

  5. pérvasion avatar

    Beispielsweise dies, das und das hier.

    Genau genommen handelt es sich (hier wie bei den Katalanen) natürlich um »Beurteilungen«, doch das Ergebnis ist dasselbe, nämlich dass eine Zuständigkeit de facto nicht (mehr) wahrgenommen werden kann.

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