Es muß die Möglichkeit bestehen, daß die Staatsgrenzen verlegt werden, wenn der Wille der Bewohner eines Landesteiles, sich einem anderen Staate anzuschließen als dem, dem sie gerade angehören, sich deutlich kundgegeben hat. […]
Das Selbstbestimmungsrecht in bezug auf die Frage der Zugehörigkeit zum Staate bedeutet also: wenn die Bewohner eines Gebietes, sei es eines einzelnen Dorfes, eines Landstriches oder einer Reihe von zusammenhängenden Landstrichen, durch unbeeinflußt vorgenommene Abstimmungen zu erkennen gegeben haben, daß sie nicht in dem Verband jenes Staates zu bleiben wünschen, dem sie augenblicklich angehören, sondern einen selbständigen Staat bilden wollen oder einem anderen Staate zuzugehören wünschen, so ist diesem Wunsche Rechnung zu tragen. Nur dies allein kann Bürgerkriege, Revolutionen und Kriege zwischen den Staaten wirksam verhindern.
Man mißversteht dieses Selbstbestimmungsrecht, wenn man es als “Selbstbestimmungsrecht der Nationen” bezeichnet. Es handelt sich nicht um das Selbstbestimmungsrecht einer national geschlossenen Einheit, sondern es handelt sich darum, daß die Bewohner eines jeden Gebietes darüber zu entscheiden haben, welchem Staatsverband sie angehören wollen. Noch ärger ist das Mißverständnis, wenn man das Selbstbestimmungsrecht als “Selbstbestimmungsrecht der Nationen” gar dahin verstanden hat, daß es einem Nationalstaate das Recht gebe, Teile der Nation, die einem anderen Staatsgebiet angehören, wider ihren Willen aus ihrem Staatsverband loszulösen und dem eigenen Staat einzuverleiben. Die italienischen Faszisten leiten aus dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen die Forderung ab, den Kanton Tessin und Teile anderer Kantone von der Schweiz loszulösen und mit Italien zu vereinigen, auch wenn die Bewohner dieser Kantone dies gar nicht wünschen. Ähnlich ist die Stellung eines Teiles der Alldeutschen zur deutschen Schweiz und zu den Niederlanden.
Das Selbstbestimmungsrecht, von dem wir sprechen, ist jedoch nicht Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern Selbstbestimmungsrecht der Bewohner eines jeden Gebietes, das groß genug ist, einen selbständigen Verwaltungsbezirk zu bilden. Wenn es irgend möglich wäre, jedem einzelnen Menschen dieses Selbstbestimmungsrecht einzuräumen, so müßte es geschehen. Nur weil dies nicht durchführbar ist, da die staatliche Verwaltung eines Landstrichs aus zwingenden verwaltungstechnischen Rücksichten einheitlich geordnet sein muß, ist es notwendig, das Selbstbestimmungsrecht auf den Mehrheitswillen der Bewohner von Gebieten einzuschränken, die groß genug sind, um in der politischen Landesverwaltung als räumliche Einheiten aufzutreten.
Daß das Selbstbestimmungsrecht, soweit es wirksam war und überall, wo man es hätte wirksam werden lassen, im 19. und im 20. Jahrhundert zur Bildung von Nationalstaaten und zur Zerschlagung der Nationalitätenstaaten geführt hat oder geführt hätte, entsprang dem freien Willen der zur Entscheidung in der Volksabstimmung Berufenen. Die Bildung von Staaten, die alle Angehörigen einer Nation umfassen, war das Ergebnis des Selbstbestimmungsrechtes, nicht sein Zweck. Wenn ein Volksteil sich in staatlicher Selbständigkeit oder im Staatsverbande mit Angehörigen anderer Völker wohler fühlt als im nationalen Einheitsstaat, kann man wohl versuchen, ihn durch Werbung für die Ideologie des nationalen Einheitsstaates zu gewinnen, um seine politischen Wünsche umzugestalten. Wenn man aber gegen seinen Willen sein politisches Schicksal unter Berufung auf das höhere Recht der Nation bestimmen will, dann verletzt man das Selbstbestimmungsrecht nicht anders als durch irgendeine andere Form von Unterdrückung. Eine Aufteilung der Schweiz unter Deutschland, Frankreich und Italien wäre, auch wenn sie genau nach der Sprachgrenze vor sich gehen würde, eine ebenso krasse Verletzung des Selbstbestimmungsrechts wie es einst die Teilung Polens war.
Ludwig Mises, austroamerikanischer Theoretiker des klassischen Liberalismus, in »Liberalismus« (1927)
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