SVP, PD und andere “Komitees fürs JA” beim Verfassungsreferendum vom 4. Dezember 2016 rechtfertigen das JA vor allem mit dieser famosen Klausel (Verfassungsgesetz Renzi-Boschi, Art. 39, P.13). Welche Logik steckt hinter dieser Klausel, die angeblich das Machwerk für Südtirol akzeptabel sein ließe?
Diese Übergangsbestimmung soll dem Staat und den fünf Regionen mit Sonderstatut ausreichend Zeit geben, um ihre Statuten einvernehmlich an die neue Verfassung anzupassen, auch wenn das etwas vornehmer mit “Überarbeitung der Statuten” (revisione) bezeichnet wird. Die zentralistischen Bestimmungen des neu gefassten Abschnitt V der Verfassung sollten nur insofern angewandt werden, als die betroffenen Regionen einverstanden sind. So z.B. wird zu klären sein, ob die neue Suprematieklausel im Sinne eines übergeordneten Verfassungsprinzips auch auf Südtirol angewandt wird. Man wird weiters klären müssen, ob die Kategorie der konkurrierenden Zuständigkeiten auch für die autonomen Regionen abgeschafft wird und ob der Staat solche an sich zieht. Die Schutzklausel gewährt einen Aufschub, aber keine Sicherheit, dass es zu einem positiven Arrangement mit Rom kommt.
Wie wird dieses Einvernehmen zwischen den autonomen Regionen und dem Staat hergestellt? Ideal für Südtirol wäre eine “intesa forte”, was einem Vetorecht Bozens und Trients gleichkäme, d.h. wenn man sich nicht einigt, bliebe alles beim Alten. Alles deutet aber darauf hin, dass es sich um eine “intesa debole” handelt, wie Florian Kronbichler und Riccardo Dello Sbarba bei einer Info-Veranstaltung der Grünen am 19. September in Bozen ausgeführt haben. Dieses Einvernehmen könne nämlich keinesfalls das Parlament in seiner Souveränität binden. Das Verfahren zur Erzielung des Einvernehmens müsse allerdings per Verfassungsgesetz festgelegt werden. Gemäß einer Vorlage des “tavolo Bressa” würde zunächst die Reform des Autonomiestatuts im Parlament beschlossen und dem Regionalrat und den beiden Landtagen zur Begutachtung binnen drei Monaten zugeleitet. Wenn diese ihr Einverständnis nicht abgäben, würde eine Art Vermittlungsausschuss eingesetzt, bestehend aus vier Parlamentariern und vier Vertretern Trentino-Südtirols. Wenn kein Kompromiss gefunden würde, kehrte die Vorlage fürs neue Statut ins Parlament zurück und könnte dort mit 2/3-Mehrheit dennoch beschlossen werden. Das Parlament hat somit das letzte Wort. Das mag für Sizilien gut gehen, hieß es, keinesfalls für die “regione specialissima” Südtirol (am Rande bemerkt: bei all diesen Verhandlungen spielt der mit Landesgesetz eingesetzte Autonomiekonvent überhaupt keine Rolle). So pochten die Südtiroler Vertreter angeblich am “Bressa-Tisch” auf ein Vetorecht. Dies würde das letzte Wort den Trentinern und Südtirolern belassen, andernfalls bliebe beim Statut einfach alles beim Alten.
Auch wenn im besten Fall ein Vetorecht durchgesetzt werden könnte, wäre das Problem überhaupt nicht gelöst, denn Südtirol ist auf einen Ausbau der Autonomie eingestimmt, nicht bloß auf eine einvernehmliche Anpassung an eine zentralistischere Verfassung. Die Bevölkerung erwartet sich zu Recht einen Schritt nach vorn, nicht bloß einen teilweisen Schutz gegen Eingriffe Roms, also einen “Schwimmreifen mit Löchern”, wie Oskar Peterlini die Schutzklausel nennt. So werden eine Reihe von erstaunlichen Fehlleistungen in der konkreten Autonomiepolitik der letzten Jahre erkennbar:
- Warum sind die positiven Neuerungen der Verfassungsreform von 2001 nie im Autonomiestatut festgeschrieben worden? Zumindest die Zeit der Prodi-Regierung 2006-2008 hätte dafür die Gelegenheit geboten.
- Warum ist hier ein Autonomiekonvent erst 2016 gestartet worden, obwohl die autonomen Regionen Friaul-Julisch Venetien und Aostatal dasselbe schon 10 Jahre früher abgeschlossen haben?
- Warum hat die SVP beim Verfassungsreferendum 2006 dagegengestimmt, obwohl diese von Berlusconi und Bossi ausgehandelte Reform mehr “devolution” und ein klares Vetorecht der Landtage bei einseitiger Abänderung des Statuts durchs Parlament enthielt?
- Warum haben die Vertreter der “regione specialissima” in der Verhandlung zur Schutzklausel nicht den Einbau des Vetorechts sofort geltend gemacht? Eine Übergangsbestimmung zur Anpassung an die neue Verfassung hätten die großen autonomen Regionen ohnehin durchgesetzt, ein Vetorecht Bozens und Trients war ja schon früher auf dem Tisch und hätte die Sonderrolle Südtirols verankert.
- Warum haben nicht alle autonomen Regionen im Rahmen der Verfassungsreform eine explizite Ausnahme vom Suprematieprinzip erwirkt, die das nationale Interesse wiedereinführt?
- Warum hat die SVP (mit den Trentinern) erst am 28. Jänner 2016 mit VerfGE Nr. 2220 den Anspruch erhoben, dass alle konkurrierenden Zuständigkeiten der Region und der Länder zu primären erhoben werden? Gerade mit einem Junktim zur SVP-Zustimmung zur Verfassung hätte der Entwurf mehr Chancen gehabt.
- Seit 15. März 2013 liegt der VerfGE Nr. 32 von Zeller und Berger zur Einführung der Vollautonomie (Gesamtrevision des Statuts) im Parlament. Warum hat die SVP dies nie zur Auflage ihrer Koalition mit dem PD gemacht?
Ohne Zweifel ist die Schutzklausel, mit der heute Kompatscher, Zeller und Achammer den Südtirolern die Renzi-Verfassungsreform schmackhaft machen wollen, zu wenig und zu schwach. Das wird auch dadurch ersichtlich, dass Bressa, Zeller, Rossi usw. schon eine Überarbeitung der Schutzklausel andenken (vgl. A. Adige vom 23.9.2016), was natürlich nicht mehr vor dem Referendum vom 4. Dezember erfolgen kann. Man hat in der Brennerstraße nicht nur die Felle zu billig verkauft, sondern macht auch eine strategische Fehleinschätzung. Die neue Verfassung in Verbindung mit dem Italicum verschlechtert nämlich ganz klar die Rahmenbedingungen im Gesamtsystem. So wird der von geschwächten Regionenvertretern dominierte Senat nie einer echter Erweiterung der Südtirol-Autonomie Richtung “Vollautonomie” zustimmen, abgesehen davon, dass die Autonomiegruppe in der neuen Kammer kein Gewicht mehr haben wird.
Serie I II III IV V VI VII VIII IX X
Scrì na resposta