Das Komitee für äußere Angelegenheiten im US-Repräsentantenhaus hat sich vorgestern eingehend mit dem Recht auf Selbstbestimmung befasst, um gegebenenfalls den Umgang der Vereinigten Staaten mit Unabhängigkeitsbewegungen weltweit — und insbesondere in Europa und Eurasien — neu auszurichten.
In diesem Rahmen hielt Paul R. Williams (Ph.D.), Mitbegründer und Präsident der Public International Law and Policy Group (PILPG), einen beachtlichen Vortrag. PILPG ist eine Non-Profit-Organisation, die jungen Staaten und auch subnationalen Einheiten kostenlose Rechtsberatung in Bereichen wie Konfliktvermeidung, Friedensverhandlungen, bei der Ausarbeitung einer Verfassung oder der Verfolgung von Kriegsverbrechern anbietet.
In seiner Stellungnahme ging Williams von der Feststellung aus, dass die US-Politik generell die Bedeutung von Stabilität und Aufrechterhaltung existierender Grenzen betone. Dem stellte er das Konzept der sogenannten »erworbenen Souveränität« (earned sovereignty) gegenüber, mit dem seiner Meinung nach dem Konfliktpotential von Unabhängigkeitsbestrebungen besser begegnet und vorgebeugt werden könne.
Unabhängigkeitsbestrebungen seien eine weltweite Realität: Derzeit existierten rund 60 Regionen weltweit, die die Unabhängigkeit oder wenigstens eine satte Autonomie fordern. Rund 20 davon befänden sich in Europa und Eurasien, wovon — laut Williams — zumindest acht auf der Suche nach staatlicher Unabhängigkeit seien.
Trotz der ständigen Betonung von Stabilität und territorialer Integrität seien während der letzten 25 Jahre über drei Dutzend neuer Staaten entstanden, die auf Selbstbestimmungsbewegungen zurückzuführen sind. Während die internationale Staatengemeinschaft zum Ende des zweiten Weltkriegs 55 Mitglieder umfasste, gebe es heute schon 195 souveräne Staaten.
Wie Professor Williams ausführte, seien Unabhängigkeitsbestrebungen zwar potentiell ein Risiko für die Stabilität und den Frieden; nichtsdestotrotz gebe es in der internationalen Gemeinschaft keine Einigkeit darüber, wie mit solchen Konflikten umzugehen sei. Grundsätzlich könne man von zwei Auffassungen sprechen:
- »Sovereignty first« (Souveränität zuerst) sei die unter etablierten Staaten am weitesten verbreitete Strategie und stelle die Stabilität und die Aufrechterhaltung des Status Quo (territoriale Integrität) in den Vordergrund;
- »Self-determination first« (Selbstbestimmung zuerst) sei die von Selbstbestimmungsbewegungen favorisierte Option, die das Recht auf Eigenregierung in den Vordergrund stelle.
Beide Optionen seien für sich allein nicht zufriedenstellend, so Williams. Ohne einen strategischen Rahmen für den Umgang mit Unabhängigkeitsbestrebungen schaffe man ein Klima der Sorge, der Instabilität und Ungewissheit.
Dagegen sei der Umgang des Vereinigten Königreichs mit Schottland ein hoffnungsvoll stimmendes Beispiel für die Abkehr von der alleinigen Sovereignty-first-Strategie eines Staates. Auch Kanada habe gegenüber Québec eine ähnliche Haltung an den Tag gelegt.
Leider sei die Europäische Union jedoch daran gescheitert, eine kohärente Strategie im Umgang mit Unabhängigkeitswünschen zu entwickeln. Im Zeitraum des Zerfalls von Jugoslawien habe sich die EU zwar mit der Badinter-Kommission bereits ein Gremium gegeben, das über Regeln für die Erlangung staatlicher Unabhängigkeit und deren Anerkennung beraten hat; Demokratie, Annahme internationaler Verpflichtungen und Wille zu friedlichen Verhandlungen seien damals unter anderem als zwingende Vorbedingungen definiert worden. Leider sei man von dieser positiven Praxis in der Folge wieder abgekommen.
Aufgrund der derzeitigen »Phobie« vor Selbstbestimmung und dem Fehlen einer kohärenten Strategie, sei die EU schlecht auf eventuelle Unabhängigkeitsprozesse in ihrem Innern vorbereitet, so Williams. Dies könne die Union in ihren Grundfesten erschüttern. Als Negativbeispiele nannte er in seinem Vortrag den intransparenten Umgang der EU-Kommission, namentlich des ehemaligen Präsidenten José Manuel Durão Barroso, mit dem Referendum in Schottland und dem laufenden Prozess in Katalonien. Die Union ignoriere dauerhaft ein relevantes innenpolitisches Thema und schaffe damit Ungewissheit und Instabilität in ihrem Innern.
Im Zusammenhang mit Katalonien wies Paul R. Williams darauf hin, dass der Internationale Gerichtshof im Falle Kosovos festgestellt habe, dass einseitige Unabhängigkeitserklärungen nicht gegen das Völkerrecht verstoßen. Die KatalanInnen würden ihre Souveränität nicht auf Grundlage der spanischen Verfassung umsetzen, sondern gegebenenfalls aufgrund des demokratischen Bevölkerungswillens.
Die Anerkennung eines unabhängigen Staates Katalonien würde voraussichtlich weitere Unabhängigkeitsbewegungen in Europa befeuern, doch die Nichtanerkennung berge das Risiko eines lang andauernden »frozen conflict« in sich, mit einem »Staat«, der zwar möglicherweise nicht allgemein anerkannt sei, dessen Einwohner jedoch UnionsbürgerInnen blieben und der den Euro nach wie vor zur Währung hat.
Zudem warnte Williams, dass eine Nichtanerkennung Kataloniens in vielen europäischen Staaten als undemokratisch betrachtet würde und in der EU sehr schwer vermittelbar wäre, nachdem fast drei Dutzend neue Staaten — darunter einige nunmehrige EU-Mitglieder — während der letzten 25 Jahre durch die EU anerkannt wurden.
Im Gegensatz zur aktuellen, unkoordinierten Vorgehensweise sehe die »erworbene Souveränität« zunächst einen auf Verhandlungen basierenden Übergang der Souveränität nach gewissen und transparenten Kriterien vom Zentralstaat auf die betreffende unabhängigkeitswillige Region vor. Der endgültige Status (ob staatliche Unabhängigkeit oder Autonomie) könne dann zum Beispiel in einem Referendum ermittelt werden. Diesen Prozess hätten Serbien und Montenegro vor der Unabhängigkeit Montenegros durchlaufen.
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