In der Geschichte der Südtiroler Autonomie gab es bisher wenig Bürgerbeteiligung. Seit Kriegsende lag das Ringen um die vom Pariser Vertrag feierlich zugesicherte Autonomie in den Händen der SVP, stellvertretend für die deutsche und ladinische Minderheit. Dafür hatte die SVP auch einen demokratischen Auftrag, die absolute Mehrheit der Wählerstimmen in Südtirol, die seit 1948 regelmäßig mit jeder Wahl erneuert wurde, bis 2013.
Zur “Paketautonomie” gab es keine institutionelle Bürgerbeteiligung. Die Entscheidungen fielen in den oberen Gremien der SVP oder auf der SVP-Landesversammlung, wie eben das JA zum Paket am 23. November 1969. Es folgte weder eine Abstimmung im Landtag noch eine Volksabstimmung. Auch die Umsetzung des Autonomiestatuts von 1972 blieb in der Hand einer kleinen Elite der SVP, genauso wie die Weiterentwicklung der Autonomie seit der Streitbelegung von 1992 Sache von einigen Abgeordneten in Rom, der SVP-Parteispitze und der Landeshauptleute blieb. Der Landtag und die Bürger waren nicht wirklich einbezogen.
Man muss auch daran erinnern, dass die jetzt 43 Jahre alte Paketautonomie gegen den Widerstand der italienischen Sprachgruppe in Südtirol, und die Verschiebung der Macht von der Region auf die beiden Provinzen gegen den Widerstand der Trentiner durchgesetzt werden musste. Erst in den Jahrzehnten danach hat sich in der italienischen Sprachgruppe mehrheitlich ein breiter Konsens zur neuen, echten Autonomie herausgebildet. Dieser Ausgleich zwischen den Sprachgruppen, die Kompromissfindung ist das Um und Auf jeder Weiterentwicklung der Autonomie. Die Zustimmung der Mehrheit der Italiener Südtirols zur Erweiterung und Vervollständigung der Territorialautonomie und zur Modernisierung einiger Regeln ist entscheidend, um das heutige Statut zu ergänzen. Ansonsten hat es die jeweilige Regierungspartei in der Hand, alles in Rom zu blockieren. Wohl kaum deutsche und ladinische Südtiroler sind gegen einen Ausbau der Autonomie, aber – wie Lucio Giudiceandrea treffend sagt – viele Italiener sind eben erst in der Paketautonomie angekommen und haben wenig Lust, gleich schon den Anschlusszug zu mehr Autonomie zu besteigen. Somit wird es vom interethnischen Verständigungs- und Überzeugungsprozess abhängen, ob man gemeinsam zugunsten einer vollständigen Autonomie vom Fleck kommt.
Eine deliberative Beteiligung der Bürger zum Autonomiestatut – das ist immerhin unsere Landesverfassung – hat es bisher noch nie gegeben. Nun hat sich die SVP nolens volens zu mehr direkter Beteiligung der Bürger durchgerungen, auch unter dem Druck der Parteienlandschaft, die viel pluralistischer ist als in den 1960ern. Um eine starke politische Legitimation durch die Bevölkerung für mehr Autonomiebefugnisse oder bestimmte Reformen des Statuts zu erreichen, hätte man allerdings einen echten Konvent, möglichst direkt von den Bürgern gewählt, mit breiteren Beteiligungsrechten schaffen müssen als den im Jänner 2016 beginnenden Schmalspurkonvent. Im Grunde ist dieser ein reiner Beirat und hätte ehrlicherweise auch so genannt werden müssen.
Beim jetzigen Verfahren zum sog. “Südtirol-Konvent” laut L.G. Nr. 3/2015 stand wohl eher das Verfahren des “Gemeinde-Leitbilds” Pate, also eine Art strukturierter Bürgerdialog, der zu keinen verbindlichen Ergebnissen führt. Ein Verfahren, das den Menschen Möglichkeiten öffentlicher Artikulation bietet, aber in den politischen Entscheidungsprozess nicht wirklich eingreift. Echte politische Mitbestimmung ist der SVP bekanntlich ein Gräuel, ansonsten hätte sie schon längst ein Direkte-Demokratie-Gesetz verabschiedet, das diesen Titel verdient. Man sollte sich vom Autonomiekonvent nicht zu viel erwarten, meinte denn LH Kompatscher, er wird wissen warum.
Für einen echten Konvent und echte Mitbestimmung des Landtags und der Bürgerschaft zum Autonomiestatut fehlt in Südtirol zudem ein wichtiges Element in unserer Verfassungsordnung: die Statutshoheit (autonomia statutaria), also die rechtliche Zuständigkeit des Landes, sich selbst ein Statut zu geben, im Einvernehmen mit dem Parlament und im Einklang mit der Verfassung. Derzeit kann nicht nur der Landtag, sondern auch der Regionalrat und das Parlament alles über den Haufen werfen oder ignorieren, was diese Konvente oder Beiräte (Trentino) als Empfehlungen formulieren.
Das Netzwerk für Partizipation gibt sich jetzt sehr begeistert von der neuen Chance auf Partizipation von unten. Doch auch eine deliberative Bürgerbeteiligung muss eine politische Wirkung anstreben, sonst riskiert man eine Art Synode, ja sogar einen Prozess, der hinter der partizipativen Qualität der Synode stecken bleibt. Mag gut gemeint sein, ist aber der demokratischen Mitbestimmung nicht würdig, die der Souverän in der Demokratie einfordern kann. In der Kirche weiß man vorab, dass Bischöfe und Papst immer das letzte Wort haben. In der Demokratie ist das nicht zwingend so. Die Mehrheit der Konventsmitglieder werden aber Personen sein, die den Mehrheitsparteien nahestehen oder diese vertreten.
Doch der sogenannte Südtirol-Konvent ist auch eine Chance: zum ersten Mal treffen sich Südtiroler und Südtirolerinnen aus allen Sprachgruppen zu einem längeren politischen Austausch über die Grundregeln und die Verfasstheit unserer Autonomie. Alle Interessierten können sich melden und ihre Vorstellungen zur Änderung und Ausbau der Autonomie äußern. Es wird ein Forum geschaffen, das eine sprachgruppenübergreifende Diskussion ermöglicht zwischen einfachen Bürgern im sogenannten Forum der Hundert, wie unter qualifizierten Konventsmitgliedern. Ihr Wort in der Abgeordneten Ohr! Es besteht die konkrete Möglichkeit, zu neuen, besseren und zeitgemäßeren Regelungen im großen Regelwerk Autonomie zusammenzufinden, vielleicht neue Lösungen zu finden, die zu einem besseren Zusammenleben und “Autonomie-Patriotismus” führen. Die Autonomie kann nämlich zum Wohle aller ausgebaut werden, das liegt eigentlich nur am politischen Willen in Südtirol und im italienischen Parlament.
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