Vor wenigen Monaten hatte sich das italienische Verfassungsgericht mit den Gesetzen der Region Venetien befasst, die die Einberufung zweier nicht bindender Volksbefragungen vorsahen. Damit wollte die Region in Erfahrung bringen, ob sich die Bürgerinnen und Bürger eine Autonomie (oder zumindest gewisse Formen von Autonomie), eine Neuverhandlung der Finanzen mit dem Zentralstaat oder aber die Schaffung eines unabhängigen Staates wünschen. Nachdem die Befragungen nicht bindend gewesen wären, möchte man davon ausgehen, dass sie in einem demokratischen Land möglich sein müssten — schließlich wollten der regionale Gesetzgeber und die Regionalregierung nichts anderes, als eine demokratisch einwandfrei zustandegekommene Rückmeldung über politische Zielvorstellungen der Bevölkerung.
Das römische Verfassungsgericht machte jedoch beiden Gesetzen den Garaus:
- Die Befragung zur Eigenstaatlichkeit verstoße gegen das Prinzip der nationalen Einheit, das in der Verfassung festgeschrieben ist;
- Zur Autonomie dürfe man die Bevölkerung nicht befragen, weil für die Verleihung dieses Sonderstatusses eine Verfassungsänderung nötig wäre. Zu Themen aber, zu deren Umsetzung eine Verfassungsänderung erforderlich wäre, dürfe Venetien — so die Verfassungsrichter — die Bevölkerung nicht befragen;
- Eine Befragung über die Neuverhandlung der Finanzen sei vom Autonomiestatut der Region Venetien nicht vorgesehen, weshalb auch diese hinfällig sei;
- Lediglich über die Verleihung beschränkter Formen von Autonomie — die kein Sonderstatut erfordern — dürfe die Region Venetien ihre Bürgerinnen und Bürger befragen.
Aus demokratischer Sicht ist eine derart restriktive Auslegung von beratenden Mitentscheidungsinstrumenten bedenklich.
Es kommt aber noch wesentlich schlimmer: Wie das Verfassungsgericht im Urteil festschrieb, sei die Einheit der Republik eines jener essentiellen Bestandteile der Verfassungsordnung, die der Möglichkeit einer Verfassungsrevision entzogen seien. Die Richter legten somit eigenmächtig — auf dem Weg der Interpretation und ohne demokratische Zustimmung des Parlaments — eine Ewigkeitsklausel über das Prinzip der staatlichen Unteilbarkeit, ein Prinzip, das selbst der Landeshauptmann als undemokratisch bezeichnet hatte.
Im Falle Kataloniens argumentiert der Zentralstaat mitunter damit, dass die Auflösung der staatlichen Einheit eine Verfassungsänderung erfordert, sich die KatalanInnen aber auf diesem legalen Weg für ihre staatliche Unabhängigkeit einsetzen könnten. Auch das spanische Verfassungsgericht sah das so. Die Verfassungsänderung ist ein theoretischer Weg, der nationalen Minderheiten offensteht, aufgrund ihrer Minderheitensituation aber faktisch einem verfassungsrechtlichen Gefängnis gleichkommt, da sie in Zentralparlamenten zahlenmäßig nicht ausreichend vertreten sind. Auf diese Problematik machte bei einer Tagung in Innsbruck ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des spanischen Verfassungsgerichts aufmerksam.
In Italien jedoch steht nach dem oben erwähnten Urteil nicht einmal mehr die theoretische Möglichkeit einer Verfassungsänderung offen, da eine handvoll Richter das Prinzip der nationalen Einheit jeglichem demokratischen Zugriff entzogen haben. Als wäre es gottgegeben. Selbst bei einer — nicht zu erwartenden — Zustimmung von 100% des italienischen Parlaments ließe sich die Unteilbarkeit des Staates nicht aufheben.
Um etwa die Loslösung Südtirols von Italien zu erreichen stehen demnach keinerlei legale und demokratische Mittel zur Verfügung; zumindest nach italienischem Recht befinden wir uns auf immer und ewig in einer unauflösbaren Zwangsehe mit diesem Staat. Höchstens internationales Recht kann hier noch helfen — oder ziviler Ungehorsam.
Demokratie sieht jedenfalls anders aus. Wenn Verfassungsvorschriften nach Gutdünken weniger, nicht gewählter Personen, der Entscheidung des Souveräns und dem Widerstreit der Staatsgewalten entzogen wird, erinnert dies immer mehr an einen autoritären Staat.
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