Ich muss zugeben, dass ich mich mit Jeremy Corbyn, seinen Ansichten und seiner Art Politik zu machen, nicht näher beschäftigt habe. Ich maße mir daher auch kein Urteil an, wenngleich ich ihn irgendwie sympathisch finde. Jedenfalls hat es dieser Corbyn geschafft, das Politestablishment Großbritanniens – auch das seiner eigenen Partei – in hellen Aufruhr zu versetzen. Die Aussagen, die im Laufe der Wahl Corbyns zum neuen Chef der Labour Party von “etablierten” Politikern über ihn getätigt wurden, sagen allerdings wesentlich mehr über die Urheber der Statements, denn über deren Adressaten aus.
Es scheint, als ob alles und jeder, der sich auch nur etwas außerhalb der Denke der sich immer weniger unterscheidenden Zentrumspolitiker konservativer und sozialdemokratischer Fasson in Europa bewegt, von Grund auf gefährlich, unseriös oder hoffnungslos wirklichkeitsfern sei.
So meinte etwa der ehemalige Labour-Premier Tony Blair angesichts des überraschenden Aufstiegs Corbyns: “When people say: ‘My heart says I should really be with that politics’, get a transplant!” Als sich dann tatsächlich ein Sieg Corbyns abzeichnete, prophezeit Blair in apokalyptischer fearmongering-Manier: “With Corbyn as leader it won’t be a defeat like 1983 or 2015 at the next election. It will mean rout, annihilation.”
Der derzeitige konservative Premierminister David Cameron sieht indes in einem Tweet kurz nach der Ernennung Corbyns nicht nur die Labour Party in Gefahr – was ihm als Tory ja gelegen kommt – , sondern gleich das ganze Land vor dem Abgrund.
The Labour Party is now a threat to our national security, our economic security and your family’s security.
— David Cameron (@David_Cameron) 13. September 2015
”Unfit to lead†lautet also die Diagnose des britischen Establishments auf den Punkt gebracht. Jemand, der nicht in Ansätzen neoliberal denkt, der unkonventionell auftritt, der nicht im Eliteuni-Milieu sozialisiert wurde, kann unmöglich politische Verantwortung übernehmen. Dass Corbyn bei der Wahl einen Erdrutschsieg landete und 59,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt, scheint irrelevant zu sein. Ist ja bloß der “Volkeswille”.
Der Sozialdemokrat Tony Blair, der die Entscheidung, britische Truppen gegen den Willen der Bevölkerung in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in den Irak zu schicken, unter anderem auf Basis einer Studentenarbeit und der Aussagen eines Taxifahrers fällte, traut einem überzeugten Pazifisten nicht zu, die Partei zu führen.
https://twitter.com/KushlasBySanaer/status/642657660110827520/photo/1
Und könnte es nicht auch sein, Mr. Cameron (im Bild rechts ganz links), dass gerade dieser Krieg und dessen Folgekonflikte ein Grund dafür sind, dass Großbritannien sich überhaupt mit “threats to the national security” konfrontiert sieht? Sicherheitsbedrohungen, die man damals mit Corbyn anstelle von Blair als Premier gar nicht oder zumindest weit weniger hätte.
Ausgerechnet jene seriösen, realistischen und etablierten Politiker, die uns die massivste Systemkrise seit Jahrzehnten eingebrockt haben, wollen jetzt die einzigen sein, die eine Lösung dafür haben. Und alle, die außerhalb des derzeitigen Systems zu denken wagen, sollen unseriös, weltfremd, ja sogar gefährlich sein? Ganz als ob eine Veränderung ausgerechnet zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendigerweise gefährlicher als die Beibehaltung des Status Quo sei.
Jene, die den Klimawandel jahrelang ignorierten, jetzt aber auf einmal eindringlich Maßnahmen fordern, halten jene, die schon seit Jahren vor den Folgen der Erderwärmung warnen für wirklichkeitsfern. Jene, die die Finanzkrise mitzuverantworten haben und im Zuge deren “Lösung” tausende Existenzen ruinierten während sie die Verursacher belohnten und Milliarden in den Wind schossen, trauen jenen, die diese Politik kritisieren keine Wirtschaftskompetenz zu? Jene, die Kriege aus zweifelhaften Gründen führen und dadurch ganze Völkerwanderungen auslösen, halten jene, die sich gegen den Einsatz von Waffen und Gewalt aussprechen für ein “nationales Sicherheitsrisiko”? Jene, die ein System protegieren, das die Schere zwischen arm und reich auf immer perversere Art und Weise auseinanderklaffen lässt, halten jene, die sich um etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit bemühen für gefährlich?
Apropos gefährlich. Horrorszenarien zu zeichnen, für den Fall, dass jemand anderer als sie selbst die Entscheidungsbefugnis bekommt, scheint überhaupt eine gängige Taktik etablierter Machthaber zu sein. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck meinte beispielsweise bei einem Staatsbesuch in der Schweiz im vergangenen Jahr: “Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen.” Aus dem Diplomatischen übersetzt heißt das in etwa: “Das Volk ist zu blöd.” Eine derartige Aussage aus dem Munde eines gewählten Volksvertreters ist nicht nur frech, sondern auch extrem lustig, wenn’s nicht so traurig wär’. Ein Politiker, der vom Volk gewählt wurde, spricht also genau diesem die Fähigkeit ab, abgewogene Entscheidungen treffen zu können. Dementsprechend hoch ist dieser Logik zufolge auch die Gefahr, dass die Wahl des besagten Politikers selbst eine völlige Fehlentscheidung war.
Erstaunlich ist auch, dass – soweit ich das überblicke – an keinem einzigen gravierenden Missstand, den wir dieser Tage erleben (Eurokrise, Flüchtlingskrise usw.), direktdemokratische Prozesse beteiligt waren. Die “hochkomplexen” Krisen sind allesamt auf repräsentativdemokratische Entscheidungen zurückzuführen. Aber das kommt wahrscheinlich davon, dass die Menschen, die in unserem Namen sämtliche Entscheidungen treffen, von Menschen gewählt wurden, die hochkomplexe Themen nicht verstehen.
Nachtrag:
Grundsätzlich möchte ich schon noch betonen, dass ich der repräsentativen Demokratie keinesfalls ihre Legitimation bzw. ihre Handelsfähigkeit absprechen möchte. Die Repräsentanten haben auch viel Gutes geleistet. Eine Demokratie kann aber nur funktionieren, wenn ihre drei Säulen (deliberative, direkte und indirekte Demokratie) in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. In diesem Zusammenhang ist der – von manchen Machthabern an den Tag gelegte – Anspruch auf die Deutungshoheit aus der sie alleinige Entscheidungshoheit ableiten, äußerst befremdlich. Vor allem auch angesichts der seit Monaten, wenn nicht Jahren, vorhersehbaren Flüchtlingskrise, im Zuge derer wir gerade eines der eklatantesten Versagen europäischer Politik erleben. Es ist allein der Zivilgesellschaft (dem “Volk”) zu verdanken, dass die Situation nicht vollends eskaliert ist.
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