Dreizehnminütiges Kurzreferat von Prof. Nico Krisch während einer Tagung zum Thema Selbstbestimmung in Europa (»Better together or happy apart?«) die am 19. November letzten Jahres — in Zusammenarbeit mit Diplocat — an der renommierten Hertie School of Governance in Berlin stattgefunden hat:
Krisch argumentiert, dass Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa sich heute nicht auf schwere Diskriminierungen oder auf den Kampf gegen Unterwerfung berufen, sondern auf den Wunsch nach Selbstverwaltung in einem angemessenen Rahmen. Das Völkerrecht beinhalte zwar nur wenig, was solche Bestrebungen stützen könnte, doch das Recht sei nicht das Ende der Geschichte, da Recht stets das Ergebnis von Politik sei. London etwa habe im Umgang mit Schottland stets auf Politik und Dialog statt auf die strikte Einhaltung von Gesetzen gesetzt. Im Übrigen beinhalte doch die Demokratie letztendlich das Versprechen, über alles demokratisch entscheiden zu dürfen, und es sei eben nicht besonders demokratisch, den Bevölkerungswillen einfach zu ignorieren.
Laut Krisch stellt Europa im internationalen Kontext einen Sonderfall dar, da Sezessionen sich im Rahmen der EU kaum destabilisierend auswirken würden. Man könnte hier also nicht nur weit mehr vom bereits genannten demokratischen Versprechen umsetzen, die EU biete sogar vielfach erst den Anreiz für Unabhängigkeitsbestrebungen, da sie als übergeordnete politische Einheit die Zugehörigkeit zu einem größeren Staat entbehrlich mache. In diesem Sinne sei die EU auch keine herkömmliche internationale Organisation, sondern eine Art föderale Struktur — und föderal organisierte Staaten hätten gewöhnlich Regeln, wie sie mit internen Erweiterungen umgehen. Laut Krisch wäre es wichtig, dass sich auch die EU derartige Regeln gibt, anstatt die Frage der Unabhängigkeit nur den einzelnen Mitgliedsstaaten zu überlassen und etwa ein unabhängiges Schottland als gewöhnlichen Beitrittskandidaten zu betrachten.
Wer die heutigen Sezessionsbestrebungen in Europa als neuen Tribalismus oder der europäischen Einigung entgegengesetzt betrachte, lasse außer Acht, dass es sich hierbei nicht — wie im frühen 20. Jahrhundert — um ethnisch motivierte, sondern um inklusivistische Projekte handelt, meist fortgeschrittener, als die Staaten, von denen sie sich loslösen möchten. Selbstverständlich könnte man sich, so Krisch, alternative und hybride (»postmoderne oder neo-medievale«) Modelle zur Überwindung von Staaten als solche vorstellen, doch heute seien Staaten nach wie vor eine der wichtigsten und somit attraktivsten politischen Organisationsformen. Welches Modell man auch immer bevorzuge, sei es jedoch kaum möglich, demokratische Bestrebungen weiterhin einfach zu ignorieren, wie es die europäische Kommission bis dato mache. Die heutigen Bewegungen seien politisch zu stark, um ignoriert zu werden, und dies habe viel mit dem sehr europäischen Versprechen von mehr Demokratie zu tun.
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