Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht von neuerlichen Flüchtlingstragödien im Mittelmeer hören. Zwar ertranken in den vergangenen Tagen nicht wieder hunderte Menschen, aber einige Dutzend haben die Überfahrt trotz ausgeweiteter Rettungsaktionen neuerlich nicht überlebt. (Zahlen, die nicht im dreistelligen Bereich liegen, nehmen wir schon beinahe nicht mehr wahr.) Und auch die Lage in Europa selbst — für jene, die die Fahrt überlebt haben — ist alles andere als rosig.
Wenn wir aber von Not und Elend sprechen, dürfen wir dies nicht bloß auf die Situation der flüchtenden Menschen beziehen. Not und Elend sind auch die bestimmenden Attribute für Europas Reaktion auf die derzeitige Situation: auf Ebene der EU wie auch darunter bei Staaten und Ländern, Parteien und Politikern. In willkürlicher Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgt eine Aufzählung, was alles so falsch läuft.
- Die Themen Zuwanderung und Asyl werden ständig vermischt, dabei haben diese beiden Konzepte im Grunde wenig miteinander zu tun. Ersteres ist eine mehr oder weniger freiwillige Entscheidung — sowohl auf Seiten des Auswanderers, der entscheidet sein Land zu verlassen, als auch auf Seiten des Ziellandes, das nach gewissen Kriterien entscheidet, ob es den Auswanderer aufnimmt oder eben nicht. Zweiteres hingegen ist ein Menschenrecht, das zu gewähren ist, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind (obgleich in vielerlei Hinsicht keine rechtliche, sondern “nur” eine moralische Verpflichtung besteht).
- Sowohl bei der Zuwanderung als auch bei der Asylsuche gibt es legale und illegale Wege um in ein Zielland zu kommen. Das Problem ist, dass selbst die EU — oder auch das mit seiner “No Way”-Strategie neuerdings als “Vorbild” gehandelte Australien — die Konzepte aus Punkt eins nicht auseinanderhalten. Es gibt für einen Flüchtling, der um Asyl ansuchen möchte, kaum eine legale Möglichkeit dies in Europa zu tun. Es bleibt meist nur die illegale Einwanderung. Um um Asyl anzusuchen, muss man sich nämlich auf europäischem Boden befinden (Botschaften zählen in diesem Fall nicht dazu). Ein syrischer Regimegegner, der sich vor den Behörden versteckt, wird jedoch kaum ohne die Mithilfe der selben staatlichen Behörden legal nach Europa ausreisen können. Gleichzeitig hat jedoch jeder Mensch das Recht (lt. Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte), in einem Land einen Asylantrag zu stellen, der individuell behandelt wird. Asylsuchende also pauschal ohne Prüfung wieder rückzuführen – zumal in einen nicht sicheren Drittstaat – ist menschenrechtswidrig und widerspricht auch der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Genfer Flüchtlingskonvention. Es ist erstaunlich, dass gerade Bernhard Zimmerhofer und Myriam Atz Tammerle als Vertreter einer Partei wie der Süd-Tiroler Freiheit, die bei jeder Gelegenheit auf das Menschenrecht auf Selbstbestimmung verweist, dies einfach nicht kapieren wollen und haarsträubende Aussagen im Südtiroler Landtag tätigen. Der Bewegung scheint mit Eva Klotz das soziale Gewissen abhanden gekommen zu sein. Sie driftet immer weiter nach rechts ab. Ebenso widerwärtig ist Andreas Pöders (Bürgerunion) Hinweis, dass sich unter den Flüchtlingen auch Kriminelle befinden könnten. Selbst wenn dem so ist, so ändert das nichts daran, dass die Menschen ein Recht auf Asyl haben. Das wäre in umgekehrter Logik ungefähr so, wie wenn man sagen würde, wir dürfen keine Gerichtsverfahren mehr machen, denn es könnte ja auch ein Unschuldiger verurteilt werden.
- Wer in Europa einen Asylantrag stellen darf, entscheiden laut Prof. Hans Rosling dank der EU Direktive 2001/51/EC mitunter Mitarbeiter von Fluggesellschaften am Check-in-Schalter. Für all jene, die sich schon immer gefragt haben, warum Flüchtlinge tausende Euros für Schlepper ausgeben, wo doch ein Flugticket nach Europa nur ein paar hundert Euro kostet.
- Politisch müsste derzeit auf drei Ebenen gehandelt werden. Notfallhilfe, Symptombekämpfung und Ursachenbekämpfung. Diese drei Dinge müssen parallel laufen. Leider beschränkt sich die öffentliche Debatte im Moment auf die ersten zwei, wobei man die Symptombekämpfung als Ursachenbekämpfung zu verkaufen versucht.
- Die Kosten für die Nothilfe — sprich ein umfassendes Seenotrettungsprogramm im Mittelmeer — sind, anders als oft behauptet, in einem europäischen Kontext gesehen nahezu vernachlässigbar. Wobei im Zusammenhang mit der Rettung von Menschenleben Geld ohnehin keine Rolle spielen sollte. Ein entsprechendes Programm – größer als “Mare Nostrum” – kostet jeden EU-Bürger rund 30 Cent pro Jahr oder 0,09 Prozent des EU-Budgets.
- Schlepper sind ein Symptom des Flüchtlingsstroms. Wenn man die Schlepper bekämpft — was grundsätzlich nichts Schlechtes ist — verkleinert man jedoch nur das Angebot bei gleichbleibender bis steigender Nachfrage. Das heißt, die Überfahrt wird nach den bisweilen zynischen Gesetzen der Marktwirtschaft nur noch teurer und risikoreicher.
- Auch die “Unterstützung der nordafrikanischen Länder” und die so genannte “Entwicklungshilfe” bzw. “Hilfe zur Selbsthilfe” sind Symptombekämpfung. Wenn jetzt über die Aufstockung Letzterer diskutiert und polemisiert wird, ist das purer Zynismus. Die derzeitge Praxis, die Lebensgrundlage der nun an unsere Tür klopfenden Menschen durch Schleppnetzfischerei, Nahrungsmittelspekulation, Landgrabbing für Monokulturen und Raubbau, Waffenexporte und die Überschwemmung der afrikanischen Märkte mit hochsubventionierten Agrarprodukten zu zerstören um ihnen dann im Gegenzug ein Almosen zu geben, ist an Perversion kaum zu überbieten.
- Ein moderner europäischer Fischtrawler vor der westafrikanischen Küste kann an einem Tag bis zu 300 Tonnen Fisch fangen und verarbeiten. Das ist ungefähr jene Menge, für die afrikanische Fischer in einer Piroge 56 Jahre (!!!) brauchen würden. Ein einziger Schleppnetzkutter fängt also so viel wie 20.000 traditionelle Fischerboote. Ein Tiefkühlhühnchen aus deutscher oder holländischer Produktion kostet aufgrund der enormen europäischen Subventionen auf dem afrikanischen Markt rund die Hälfte von dem, was ein einheimischer Bauer in Senegal oder Ghana für sein Fleisch verlangt. Diese Tatsachen sollte man auch im Hinterkopf behalten, wenn andauernd — wie zum Beispiel bei den Freiheitlichen — davon die Rede ist, dass da ja “nur” Wirtschaftsflüchtlinge kämen, die von unserem System profitieren möchten. Vielmehr zwingt “unser System” diese Menschen zum Auswandern.
- Aber auch Vertreter anderer Parteien tun sich durch intellektuelle Abenteuerlichkeiten hervor. Die Grünen zum Beispiel: In einem Abänderungsantrag zu einem Beschlussantrag im Landtag fordern sie, dass das Schengener Abkommen — sprich die Reisefreiheit — für Menschen mit gültigem Zugticket angesichts der Kontrollen der “trilateralen Streifen” in Zügen und auf Bahnhöfen geachtet werden muss. An und für sich ja eine legitime Forderung. Was die Grünen aber offenbar nicht verstanden haben — ihr Antrag ist ja auf die Ausweisungen von Flüchtlingen aus den Zügen durch die Polizeistreifen gemünzt: Ein gültiges Zugticket allein genügt nicht, um sich frei im Schengenraum bewegen zu dürfen. Dafür bedarf es eines gültigen Aufenthaltstitels für Europa, über den die betroffenen Personen nicht verfügen. Genaugenommen wird gerade durch die Zurückweisung das Schengener Abkommen eingehalten, wie es die Grünen fordern.
- Zynisch sind auch die Äußerungen von Soziallandesrätin Martha Stocker, die ein breiteres Engagement Südtirols mit der Begründung ablehnt, dass die Flüchtlinge ohnehin weiter in den Norden reisen möchten. Laut geltender Dublin-III-Verordnung dürfen sie das jedoch nicht. Sollten sie es tatsächlich illegal nach Österreich schaffen, ist man “das Problem” in Südtirol los. Andere mögen sich dann um Menschen ohne Aufenthaltstitel und deren Asylverfahren bzw. Abschiebung kümmern.
- Ähnlich frech bis schwachsinning sind auch Klaus Ladinsers (Vizebürgermeister von Bozen) Forderung, Österreich und Bayern mögen endlich Korridore Richtung Norden öffnen oder Paolo Campostrinis Hinweis in der Tageszeitung A. Adige, dass die Euregio versagt habe.
1. Die Einreise und Aufenthaltsgenehmigung sind Sache des Staates und nicht der Euregio. Zuallererst wäre Italien verpflichtet, die ankommenden Menschen zu registrieren und ihnen ein geordnetes Verfahren anzubieten.
2. Italien hat nach wie vor wesentlich weniger Asylwerber pro Kopf als Deutschland, Österreich oder Schweden. Auch nach einem Verteilungsschlüssel, der neben der Bevölkerungszahl die ökonomische Stärke eines Landes berücksichtigt, ist Italien säumig, während Österreich die Quote übererfüllt.
3. Dass Nordtirol beinahe 3000 Flüchtlinge untergebracht hat, während es in Südtirol etwas über 200 sind, sei nur am Rande erwähnt.
- Dass Italien bei der Bewältigung der ankommenden Menschen Unterstützung braucht und die Dublin-III-Verordnung Blödsinn ist, steht außer Frage. Dennoch ist die Forderung nach “Reisefreiheit” für die Flüchtlinge und Italiens “Taktik”, die Menschen nicht zu registrieren, in der Hoffnung, dass sie nach Norden abhauen, eine Katastrophe. Für Europa und die (sich selbst überlassenen) Flüchtlinge selbst.
1. Würde für Menschen ohne regulären Aufenthaltstitel Bewegungsfreiheit herrschen, würden sämtliche Asylanträge in Europa wohl nur noch in Schweden, Deutschland, Österreich und vielleicht auch noch in den Niederlanden, in Frankreich und in Großbritannien gestellt werden. Diese Verteilung wäre nicht nur ungerecht, sondern würde mit Sicherheit auch dazu führen, dass diese Länder ihre Regelungen und Aufnahmepraxis drastisch verschärfen. Asyl würde noch unmöglicher werden. Es käme zu einem Wettbewerb der schlechtesten Standards.
2. Menschen, die in keinem geordneten Asyl- oder Aufnahmeverfahren sind, würden massenhaft als “U-Boote” in Europa leben (bereits jetzt befinden sich zwischen 1,9 und 3,8 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung in der EU). Diese Menschen haben keine Perspektive, da sie weder legal arbeiten noch wohnen können. Sie sind der Willkür ausgeliefert, werden ausgebeutet und missbraucht oder driften in die Kriminalität ab. Es gibt kaum anderen Optionen für sie.
Angesichts der dilemmaartigen Umstände, der haarsträubenden Rechtslage und der menschlichen Katastrophe, wären meines Erachtens folgende Maßnahmen angebracht:
- Umfassende, von der EU finanzierte Rettungsaktion im Mittelmeer.
- Humanitäre Hilfe und Grundversorgung vor Ort für all jene, die bereits in Europa sind. Nachträgliche Registrierung der Menschen und Überführung in ein reguläres Asyl- bzw. Aufenthaltsverfahren.
- Registrierung sämtlicher ankommenden Flüchtlinge — ebenfalls durch eine massive Aufstockung von Budget und Personal durch die EU.
- Schnellstmögliche Aufstellung einer europäischen Asylbehörde mit einheitlichem Verfahren und einheitlichen Standards. Schaffung legaler und fairer Möglichkeiten, um um Asyl anzusuchen. Verteilungsschlüssel für die Mitgliedsländer nach Bevölkerungszahl, Wohnfläche und Wirtschaftskraft bzw. Präferenzen des Asylsuchenden (z.B. Sprachkenntnisse, Ausbildung) und bereits bestehenden Kontakten (z.B. Verwandte).
- Konsequente Umsetzung des geltenden Rechts bei gleichzeitiger Anstrengung, dieses innerhalb weniger Monate zu überarbeiten. D.h. Flüchtlinge müssen um Asyl ansuchen oder sie werden abgeschoben. Bisher tun sie das nicht, da sie befürchten, dass das Asylverfahren zum Beispiel von Italien (und nicht ihrem Wunschland) abgewickelt werden wird. Sobald jedoch die neue europäische Asylbehörde steht, könnten alle bereits gestellten Anträge in “europäische Asylanträge” umgewandelt und die Dublin-III-Regeln abgeschafft werden.
- Die Tatsache, dass bezüglich Zuwanderung in den Binnenmarkt bzw. Schengenraum — ähnlich wie beim Asylrecht — 28 unterschiedliche Regelungen gelten, ist widersinnig. Daher braucht es auch neue, faire und transparente Wege für den Zuzug nach Europa.
- Verbot von Schleppnetzfischerei, Waffenexporten, Nahrungsmittelspekulation. Radikale Überarbeitung der Agrarsubventionen. Strengere Kontrollen für europäische Konzerne bei Abfallexport, Landgrabbing, Raubbau, Rodung. Verpflichtung zu bodenschonendem Anbau (Stichwort Monokulturen) usw. usw. usw.
- Um die Umsetzung vor allem letzterer Maßnahmen zu beschleunigen, soll sofort und unwiderruflich beschlossen werden, dass Europa seine Grenzen — sagen wir — binnen 40 Jahren komplett öffnen wird (siehe dazu auch Michael Clemens, Ökonom am Center for Global Development). Dadurch wäre die EU förmlich gezwungen, Massenflucht (auch aus wirtschaftlichen Motiven) ursächlich und nachhaltig zu bekämpfen bzw. kompromisslos und vor allem schnell zu handeln. Gemäß dem Motto: Europa kann nicht Afrikas Probleme lösen. Aber es kann wenigstens damit aufhören, sie mitzuverursachen.
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